Fans 06.09.2023 - 19:00 Uhr
Adschee, liebe Südtribüne
Am Samstag nehmen die Fans von Mainz 05 im Rahmen des Testspiels gegen den MSV Duisburg Abschied von ihrer "Süd". Schön war sie nie, erlebt hat sie und haben die Anhänger auf ihr viel: Ein Rückblick auf 26 Jahre
Es ist Zeit Abschied zu nehmen. Die Südtribüne des Bruchwegstadions fällt zwar erst im nächsten Jahr, aber an diesem Samstag öffnet sie sich zum letzten Mal für uns, wenn die Profis in der Länderspielpause gegen den MSV Duisburg testen (15.30 Uhr, Tickets im Fanshop und an der Tageskasse / Stadionöffnung um 13 Uhr / Rahmenprogramm mit Talk und Musik). Sie hat vieles erlebt, unsere Aufstiege, Helden des Vereins, auch bittere Niederlagen. Sie ist ein Eckpfeiler unserer Geschichte und weicht unserer Zukunft, dem Neubau aus Geschäftsstelle und Funktionsgebäude, der hier bis 2026 entsteht.
Schön war sie nie, unsere Südtribüne. Oberflächlich betrachtet nur 48 Stufen verkleidetes Stahlrohrgerippe. Zusammengeschraubt aus einem Gewirr von Trägern und Verstrebungen. Stehtribüne eines Stadions, das wie die Süd den Charakter eines Provisoriums nie ablegen konnte. Aber sie war auch eine Tribüne der Hoffnung, geplant, als Mainz 05 an Weihnachten 1996 plötzlich auf einem Aufstiegsrang überwinterte und sich damals niemand beim Blick auf die flachen Tribünen und die Aschebahn vorstellen mochte, dass hier Bundesliga gespielt werden könnte.
Ein Symbol des Aufbruchs Ende der Neunziger
Trainer war damals Wolfgang Frank, der große Innovator und Dompteur der Viererkette, der den Mainzer Fußballfans – und jenen, die bis dahin noch gar nicht wussten, dass sie solche werden würden – so etwas wie Selbstbewusstsein und Ambitionen eintrichterte. Die Mainzer Träume wuchsen damals noch nicht in den Himmel. Wolfang Frank ging, später auch die Hoffnung auf den Aufstieg. 4:5 im Finale beim VfL Wolfsburg.
Die Südtribüne ist trotzdem im folgenden Sommer gewachsen, ein wenig auch als Symbol des Aufbruchs. Platz für 6.500 Stehende. Und mit ihrer kongenialen Partnerin, der Sitzplatztribüne gegenüber, hauchte sie unserem altehrwürdigen, gedrungenen Bruchwegstadion mit der niedrigen Sitztribüne und dem flachen Dach über der Gegengerade erstmals so etwas wie Stadionatmosphäre ein.
Erste Jahre: Christof Babatz, im Februar 2001 beim ersten Spiel unter Jürgen Klopp als Trainer, vor der Süd, die damals Kuemmerling-Tribüne hieß.
Taufe im August 1997
Taufe: 3. August 1997, 4:1 im Zweitliga-Heimspiel gegen die SpVgg Greuther Fürth, erstmals mit tausenden Fans auf der Südtribüne. So nannte der Verein sie aber nur kurze Zeit, stattdessen alsbald Kuemmerling-, später Telco- und dann Lotto Rheinland-Pfalz-Tribüne - und die einzelnen Blöcke schmucklos, in korrekter alphabetischer Reihenfolge P, Q, R und S. Viel wichtiger aber: Viele Fans, die jahrelang im Staub der Gegengerade versunken waren - ein Relikt des hier als Wall aufgeworfenen Schutts aus dem im Krieg zerstörten Mainz – nutzen den Moment für den geschlossenen Umzug. Nur so konnte hier die Keimzelle Mainzer Fußballstimmung wachsen und auch der Weg zur Gründung der Mainzer Ultra-Szene 2001 geebnet werden.
Vom Glanz der Bundesliga waren die 05ER da zunächst aber noch weit entfernt. Die Südtribüne erlebte Abstiegskämpfe, viele räudige Zweitliga-Spiele, die irgendwie auf verschlungenen Wegen zum Klassenerhalt führten. Daneben auch kleinere Ausreißer, emotionale Farbtupfer wie im DFB-Pokal 1999 mit den Heimsiegen gegen die Bundesligisten Hamburger SV und Hertha BSC. Bis Jürgen Klopp an Fastnacht 2001 auf die Mainzer Trainerbank wechselte. Als Spieler ein verbissener Renner und Kämpfer der Zweiten Bundesliga im besten Sinne, an der Seitenlinie ein Multi-Naturtalent mit fußballerischem Entwicklungsgeist und Pathos für die wirklich großen Stadien dieses Planeten.
Das Bruchwegstadion wächst mit
Natürlich musste das Bruchwegstadion mitwachsen. Doch die Geschichte wiederholte sich. Nächste Ausbaustufe geplant für den avisierten Aufstieg im Sommer 2002. Abgewatscht, Aufstieg wieder um Haaresbreite verpasst. Ein echter Tiefschlag, doch der Verein berappelte sich und zimmerte seinen Trotz im Baukastenprinzip neben den Rasen: die neue Haupttribüne und die Gegengerade kamen dazu.
Der beengte Raum zwischen Bezirkssportanlage, Eishalle und Haasekessel auf der einen und dem Dr.-Martin-Luther-King-Weg auf der anderen Seite, hemmte allerdings das Wachstum und zwang den Verein, auch aus dem letzten Quadratmeter Raum noch Stadionplätze herauszupressen. Das Spielfeld wurde einige Meter verlegt, die Kopftribünen rückten daher seitlich aus der Mitte. Nein, wirklich hübsch war das Bruchwegstadion auch jetzt nicht. Aber es hatte nun Flair.
100 Prozent auf den Rängen, das war stets die Devise der 05-Fans auf der Südtribüne, vor allem im Stimmungszentrum der mittleren Blöcke Q und R.
Aufstieg, Bundesliga, Choreos und ein Ticket als hohes Gut
Denn Mainz 05 bedeutete plötzlich etwas in der Stadt. Die Euphorie war greifbar, die Stimmung im Stadion ursprünglich, hautnah, unverstellt. Der unter dramatischen Umständen erneut verpasste Aufstieg 2003 war im Nachhinein der beste Klebstoff für die Mainzer Fanseele. 2004 ging es endlich hoch, Aufstieg! Der Mainzer Fußball lebte auf. Erster Bundesliga-Sieg gegen den Hamburger SV, Fußballfeste, Abstiegskämpfe, Abstieg, Wiederaufstieg, Welttrainer wie Jürgen Klopp und Thomas Tuchel auf dem Zaun, Humba mit den Fans. Die Südtribüne hat diese Blütezeit erlebt und geprägt. Choreografien der Fans wie zum 100-jährigen Jubiläum des FSV im Heimspiel gegen Schalke 04, als beim unfassbaren Führungstor in der ersten Spielminute durch Fabian Gerber einige Tausend Fans auf der Süd noch die Pappschilder vors Gesicht hielten. Der Jubelorkan: unvergessen. Gänsehaut, noch heute.
Eine Dauerkarte oder ein Tagesticket zu besitzen war das höchste Gut. Dicht gedrängt pressten sich die Fans auf der Stehtribüne aneinander, inzwischen eingepfercht zwischen einer Lärmschutzwand und einer weiteren Stahlrohrtribüne, die sich um den Flutlichtmasten schlang. Gemeinsam für den FSV, aktive Szene, Fanklubs oder einfach nur Steher. Vollbesetzt schon 90 Minuten vor dem Anpfiff. Obwohl sehr jung an Jahren und ein Anachronismus des modernen Fußballs und seiner für die Weltmeisterschaft 2006 entwickelten Arenen, hatte das Bruchwegstadion einen einzigartigen, beinahe traditionellen Fußball-Charme entwickelt, dem sich auch Gästeteams mit gebotenem Respekt näherten.
Erster Abschied und Übergangszeit
Sonntag, 3. Juli 2011, dann der Anfang vom Ende. Umzug in die neue Arena, auf dem Höhepunkt der sportlichen Qualifikation für die Europa League. Mit dem Abschiedsspiel für Ehrenspielführer Dimo Wache und dem anschließenden Fußmarsch ins neue Stadion hatte die Südtribüne bei Profi-Pflichtspielen ausgedient. Fans konnten sie in den folgenden Jahren zwar noch nutzen, bei gelegentlichen Testspielen, oder den Q-Block bei Partien der U23. Aber die großen Zeiten waren nun vorbei. Ein Abschied auf Raten.
Mit einem großen Fanmarsch zogen die 05-Fans 2011 zum Abschied ins Bruchwegstadion
Ein letztes Mal...
Ein letztes Mal dürfen die Fans nun am Samstag auf die Südtribüne, 2.000, um genau zu sein, mit Sondergenehmigung der Stadt. Der Zahn der Zeit hat längst an der Tribüne genagt. Weiter oben im S-Block fehlen Bodenplatten, der Blick geht aus luftiger Höhe frei nach unten in das Geäst der Stahlrohre. Anfang 2024 wird hier für immer abgeschraubt. Wir bauen genau hier unsere Zukunft und tragen deshalb die Erinnerung weiter in unseren Herzen. An eine wunderschöne, einmalige Zeit, die so nicht wiederkehren wird, aber die der Anfang von fast allem war. Danke und Adschee, liebe Südtribüne.