Profis 30.03.2023 - 13:00 Uhr

Ambivalenter Schulterblick

Vor dem Duell mit Leipzig nach der letzten Länderspielpause der Saison spricht Cheftrainer Bo Svensson über das lange Wochenende, Eigenverantwortung der Spieler, komplizierte Entscheidungen & Lernprozesse

Länderspielpausen sind für Cheftrainer in der Bundesliga stets Phasen der Improvisation, gleichzeitig aber auch die Chance, durchzuatmen und sich auf die kommenden Aufgaben zu fokussieren. So auch in dieser letzten zweiwöchigen Liga-Unterbrechung der Saison. Während acht Nationalspieler auf Reisen waren, hatte sich der Rest des Kaders aufgrund der jüngsten Punkteausbeute – in Absprache mit dem Trainerteam - ein langes Wochenende verdient. Zeit zur freien Verfügung, in der die Spieler allerdings Hausaufgaben in Form individueller Trainingspläne mit auf den Weg bekommen hatten. Am Dienstagnachmittag kehrte der noch ausgedünnte Kader zurück auf den nagelneuen Rasen auf Trainingsplatz zwei am Bruchweg und startete die Vorbereitung auf die Aufgabe bei RB Leipzig am Samstagnachmittag (15.30 Uhr, live auf SKY & 05ER.fm).

Im Anschluss an die erste Einheit der Woche präsentiert sich Bo Svensson bestens erholt. Nach einigen Tagen in der dänischen Heimat (Svensson: "Bis auf das Wetter war es herrlich") – dort studieren die beiden ältesten seiner drei Söhne - hat er mit seinem Team die ersten 90 Minuten auf dem frisch verlegten Geläuf auf Trainingsplatz zwei hinter sich gebracht, bei der gleich sieben U23-Akteure mitwirken durften. Improvisation mit Mehrwert und keine Ausnahme am Bruchweg. "Es ist immer gut, wenn die U23-Spieler dabei sind. Sie geben Vollgas, bringen Qualität mit, da mache ich mir null Gedanken, wenn Jungs aus Jans (Anm. d. Red.: U23-Coach Jan Siewert) Mannschaft oder aus der U19 dazu kommen. Man merkt auch an unseren Spielern, dass sie das nicht locker angehen. Das ist insgesamt sehr positiv und die Leistungen bemerkenswert", hebt der 43-Jährige die Qualität der Arbeit im Nachwuchsleistungszentrum hervor. Schnelle, knackige Spielformen auf engem Raum, später zudem mit Torabschlüssen stehen auf dem Programm. Die Intensität ist am Maximum, die Hausaufgaben haben die 05ER allesamt erledigt, wie sich zeigt.

Jubel mit den Fans: Vor dem Remis gegen Freiburg durfte der FSV in der MEWA ARENA vier Heimsiege in Serie bejubeln.

Edimilson als Paradebeispiel

Eigenverantwortung und intrinsische Motivation sind in den Augen des Dänen ohnehin eine zwingende Voraussetzung für die persönliche Weiterentwicklung und sportlichen Erfolg als Mannschaft. "Wir können in dieser Saisonphase nicht einfach vier freie Tage einbauen.“ Die Erfüllung der individuellen Aufgaben werde zwar kontrolliert, wobei jeder Spieler stets persönlich investieren müsse, um den Weg in Svenssons Team mitzugehen. "Grundsätzlich geben wir den Spielern immer Richtlinien vor, machen ihnen aber auch klar, dass sie für ihre eigene Karriere verantwortlich sind. Wenn wir ihnen eine Tür zeigen, müssen sie hindurchgehen. Ich glaube, ein Mensch ist motivierter, wenn er Teil dieses Prozesses ist und nicht alles von uns vorgegeben bekommt", erläutert der langjährige 05-Profi und veranschaulicht sein Verständnis am Beispiel von Edimilson Fernandes: Der Schweizer habe Talent mitgebracht, aber "lange nicht verstanden, was er zu leisten hat, um es auszuschöpfen. Diesen Stein hat er selbst gedreht, dafür haben wir ihm viel Zeit gegeben, und es war in diesem Jahr seine letzte Chance“, so Svensson unmissverständlich. "Edi ist ein gutes Beispiel dafür, dass es nie zu spät ist, an sich zu arbeiten. Wir haben klar definierte Anforderungen, die es zu erfüllen gilt – Voraussetzung sind dann immer Eigeninitiative und die Überzeugung des Spielers. Er bringt alle Qualitäten mit, die es braucht – nun ruft er sie auch ab und hat sich verdient in die Mannschaft gespielt."

Neben der individuellen Weiterentwicklung weit oben auf der Agenda steht für Svensson allerdings das große Ganze, das Miteinander auf und neben dem Platz sowie die Harmonie in der Gruppe im täglichen Miteinander. Hier könne und solle die Wahrscheinlichkeit gesteigert werden, dass spiel- und ergebnisentscheidende Kleinigkeiten auf 05-Seite gezogen werden. 

30.03.2023

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Wahrscheinlichkeit auf Erfolgserlebnisse erhöhen

"Uns geht es hier um eine bestimmte Kultur und das gleiche Verständnis eines Miteinanders. Wenn das passt, steigt die Wahrscheinlichkeit, Spiele drehen oder spät zurückkommen zu können. Daran glaube ich zumindest. Bist du gern zusammen, kämpfst du umso lieber zusammen gegen Widerstände. Sitzt du mittags gerne nebeneinander am Tisch, bügelst du im Spiel vielleicht noch lieber einen Fehler aus. Ich bin sicher, dass eins und eins so auch schon mal drei ergeben kann. Deswegen investieren wir hier so viel, weil wir überzeugt sind, uns damit Vorteile erarbeiten können."

Es ist eine Rechnung, die in den vergangenen Wochen glänzend aufgegangen ist – aus weiteren Gründen, die Svensson anführt. Ein Zufall sei die Ausbeute von 17 Zählern aus acht Rückrunden-Begegnungen (zum gleichen Zeitpunkt der Hinrunde waren es elf gewesen) aus seiner Sicht nicht: "Die Frage lautet immer: 'Waren unsere Tugenden und Prinzipien auf dem Platz erkennbar?' Seit der Winterpause treten wir allgemein konstanter und stabiler auf. In der Hinrunde hatten wir gute Phasen, es war aber weniger Verlass auf uns", so Svensson. Das sei ein entscheidender Punkt, weshalb sich die Leistungen in der Punkteausbeute widerspiegeln würden. Ein weiterer wichtiger Faktor laut dem Cheftrainer: die eingespielte Abwehrkette, die seit der letzten Niederlage bei Union Berlin Anfang Februar in unveränderter Formation - bestehend aus Stefan Bell, Edimilson Fernandes, Andreas Hanche-Olsen, Anthony Caci und Danny da Costa - aufläuft. "Das ist sehr entscheidend dafür, wie wir mit und gegen den Ball agieren können. Stimmen die Abläufe hier nicht, kann es sehr inkonstant werden. Sind wir hier verlässlich, sind wir insgesamt mutiger, trauen uns mehr zu und bleiben aktiv. Das hat inhaltlich und vom Mindset her großen Einfluss auf unser Spiel."

Das der Abwehrkette entgegengebrachte Vertrauen bringt allerdings auch harte Entscheidungen mit sich, hat dazu geführt, dass in den vergangenen Partien selbst Kapitän Silvan Widmer eine Rolle als Joker zukam, während weitere Schlüsselspieler der vergangenen Monate wie Dominik Kohr, Alexander Hack oder aber Aarón Martin sich in Geduld üben und auf die nächste Startelf-Nominierung warten müssen. Eine Luxussituation, die auch Svensson gelegentlich unwirklich erscheint, wie er sagt: "Manchmal ist es ein ambivalentes Gefühl, über die linke Schulter zu gucken und zu sehen, wer da eigentlich sitzt. Auf der anderen Seite war ein entscheidender Aspekt unserer Kaderplanung, dass wir die Konkurrenz erhöhen wollten. Wir spielen Leistungsfußball, aber wir werden auch nicht durch den Rest der Saison kommen, ohne dass die Jungs auf der Bank wieder eine wichtige Rolle spielen. Es ist eine Herausforderung für uns alle, sich weiter gegenseitig zu pushen und so gemeinsam erfolgreich zu bleiben." Die Kadersituation bedeute insofern einen Fortschritt gegenüber der vergangenen Saison, als die Leistungsdiskrepanz zwischen Kaderspieler 14 und 20 nach Svenssons Empfinden häufig zu groß gewesen sei.

Volltreffer auf dem Wintertransfermarkt

Vorgebaut haben die 05ER mit ihrer Herangehensweise im Sommer wie im Winter nicht zuletzt auch mit Blick auf zwei Ausfälle, die besonders wehtun, wie auch Svensson bestätigt: "Wenn mir vor der Saison jemand gesagt hätte, dass uns Jonny und Karim fehlen, hätte ich gesagt, dass Marcus Ingvartsen schon eine außergewöhnlich gute Saison spielen muss. Ein Schlüsselfaktor für uns waren insofern auch die Wintertransfers. Ludovic Ajorque und Andreas Hanche-Olsen helfen uns immens und passen nicht nur auf dem Platz, sondern auch menschlich zu dieser Gruppe. Man darf nicht vergessen, dass uns darüber hinaus Marlon Mustapha, der gut in die Saison gestartet ist, schon lange fehlt und erst jetzt langsam wieder in den Bereich kommt, wo wir ihn sehen möchten. Marcus, Ludo und Nelly Weiper, wenn er reinkam, haben es gut aufgefangen, was aber natürlich nicht bedeutet, dass Jonny und Karim für uns keine unheimlich wichtigen Spieler mehr sind."

Mit klaren Ansagen im Training & einem gemeinsames Verständnis für die Aufgaben auf dem Platz schaffen die 05ER in den Trainingseinheiten auf dem Gelände des Bruchwegstadions die Voraussetzungen für sportlichen Erfolg.

Zumindest auf Burkardt muss Svensson auch bis auf Weiteres verzichten und sich mit dem ab Donnerstag wieder kompletten Trainingskader auf die anstehende Aufgabe in Leipzig vorbereiten. Dass auch er mit seinem Trainerteam dabei von Spiel zu Spiel hinzulerne, sich weiterentwickle und wichtige Rückschlüsse ziehen könne, betont er ausdrücklich mit Blick auf das zurückliegende Duell mit dem SC Freiburg (1:1), als der FSV nach der Pause schwierige Phasen durchlebt hatte. Unterschiedliche Gründe hätten dazu geführt, dass das zuletzt so verlässliche Gerüst ins Wanken geraten war: "Wir sind aus meiner Sicht mental nicht gut aus der Pause gekommen. Das war eine Komponente, zudem hat Freiburg ein paar Sachen umgestellt, worauf wir erst in den letzten zehn, 15 Minuten die richtigen Antworten gefunden haben. Das haben wir vielleicht auch im Trainerteam zu spät erkannt", hat der Däne mit seinen Kollegen analysiert. "Insofern war es eine Mischung von mehreren Dingen, angefangen mit dem Fehler vor dem 0:1, der zu Verunsicherung geführt hat. Wir lernen daraus, und stellen uns beispielsweise auch die Frage, ob wir in der Halbzeit die richtigen Worte gefunden haben. Das Gute ist: Fehler fühlen sich in der Regel beschissen an, aber man kann sehr viel daraus lernen, auch wir als Trainerteam. Gleichzeitig aber natürlich auch, dass bis zur letzten Sekunde alles drin ist", so Svensson rückblickend.

Eine wichtige Erkenntnis, zumal der Däne weiß, dass Fehler am Wochenende in Leipzig, im Duell mit dem Team seines Ex-Mannschaftskollegen am Bruchweg Marco Rose, aller Wahrscheinlichkeit nach hart bestraft werden dürften. In der sächsischen Landeshauptstadt rechnet der 05-Trainer "mit einem der schwierigsten Spiele der Saison. Leipzig ist unter Marco einfach gut, auch wenn sie zuletzt einige Spiele verloren haben. Für uns muss sehr viel zusammenkommen, um etwas mitzunehmen. Wir müssen effektiv sein und in allen Phasen eine Top-Leistung abrufen, es braucht die richtige Taktik. Die Latte für uns liegt dort sehr hoch", so Svensson vor dem Beginn des Liga Endspurts mit neun verbleibenden Partien.