Profis 23.10.2013 - 16:19 Uhr
Identitätstiftendes Trauma
Erinnerung an das Aufstiegsfinale 2003 bei Eintracht Braunschweig
Erstmals seit zehn Jahren kreuzen sich am Samstag wieder die Wege von Mainz 05 und Eintracht Braunschweig in einem Pflichtspiel. Das bisher letzte Aufeinandertreffen beider Klubs gehört aus Mainzer Sicht zu den denkwürdigsten Momenten der Vereinsgeschichte und ist gleichzeitig das schmerzhafteste Fußball-Erlebnis der allermeisten 05-Fans. Trotz eines 4:1-Auswärtssieges verpassten die Nullfünfer damals als Zweitligist höchst dramatisch den greifbar nahen Aufstieg in die Bundesliga um ein Tor.
Die sportliche Geschichte der Zweitliga-Saison 2002/03 gehört zu den spektakulärsten Entscheidungen, die jemals im deutschen Fußball an einem letzten Spieltag gefallen sind. Wie bei jedem guten Drehbuch fehlt auch nicht die passende Vorgeschichte. Für die Mainzer lag diese ein Jahr zurück. Bereits im Saisonfinale 2002 hatte der 1. FSV Mainz 05 nach einer überragenden Saison und einem Dauer-Abonnement auf die Aufstiegsplätze in den finalen Minuten des Auswärtsspiels bei Union Berlin den sicher geglaubten Aufstieg verspielt. Der kleine Klub, seiner gefühlt einmaligen Chance beraubt, lag am Boden. Die Mainzer versanken in der Alten Försterei in einem Meer aus Tränen und mussten nach Abpfiff zudem ein unglaubliches Maß an Spott über sich ergehen lassen. Damals ahnte niemand, dass diese Dramatik, aber auch die unwürdigen Randerscheinungen noch gesteigert werden sollten.
Mit einem Ohr in Frankfurt
Sonntag, 25. Mai 2003. Ein drückender, diesiger Sommertag im Stadion an der Hamburger Straße. 2.500 Mainzer Fans durften mitreisen, Endspielstimmung vor ausverkauftem Haus. Die Braunschweiger hofften noch auf eine kleine Chance im Abstiegskampf, die Nullfünfer brauchten einen Sieg für den Aufstieg und hatten doch ein Ohr immer bei der Hörfunkübertragung. Denn der eigentliche Mainzer Konkurrent war Eintracht Frankfurt, ausgestattet vor dem 34. Spieltag mit der gleichen Punktzahl und der um einen Treffer besseren Tordifferenz als die Mainzer. Die Frankfurter hatten im Heimspiel gegen den bereits abgestiegenen SSV Reutlingen die vermeintlich leichtere Aufgabe zu bewältigen.
Die sportliche Geschichte dieses Tages muss in zwei Abschnitten erzählt werden: Nach gut einer Stunde Spielzeit waren die Nullfünfer eigentlich am Ziel ihrer Träume. Benjamin Auer hatte viermal eingenetzt, die Mainzer lagen in Braunschweig 4:0 vorne. Im Waldstadion mühten sich die Frankfurter bei einem Zwischenstand von 3:3. Im Vergleich beider Konkurrenten lagen die Nullfünfer bis zehn Minuten vor Schluss vier Tore vor der Eintracht.
Schock in der Nachspielzeit
Und plötzlich ging es Schlag auf Schlag. Erst verkürzte der Braunschweiger Abdoul Thiam mit dem Kopf auf 1:4, wenig später gingen die Frankfurter 4:3 in Führung. Während die Mainzer Großchancen liegen ließen und ihren Sieg nach Hause brachten, startete die Frankfurter Eintracht einen Sturmlauf. Und das Unglaubliche geschah: Bakary Diakité traf zum 5:3 (90.), Alex Schur in der dritten Spielminute der Nachspielzeit gegen inzwischen komplett widerstandslose Reutlinger zum 6:3. Abpfiff, der Aufstieg für die Frankfurter. In Braunschweig war längst Schluss gewesen, die Nullfünfer, Spieler und Fans, verfolgten den Tiefschlag am Radio oder einem kleinen Fernseher, den der Sender Premiere am Spielfeldrand postiert hatte.
Die Nullfünfer waren am Boden zerstört. Zweimal so nah dran am Aufstieg, zweimal so knapp gescheitert, jeweils mit der damals besten Punktezahl eines Nichtaufsteigers. 2002 fehlten wenige Minuten, 2003 nur noch Sekunden und ein einziges Tor. Bei gleicher Punktzahl entschied die um einen Treffer bessere Tordifferenz für Eintracht Frankfurt. Alle Mainzer waren ohnmächtig, wie benommen vor Schmerz. Und zu allem Überfluss fehlte es auch diesmal nicht an Antipoden, die sich am Schicksal der Mainzer labten. Die in Braunschweig tausendfach gegrölte Häme klang den Nullfünfern noch lange in den Ohren.
Eigene Geschichte geschrieben
Warum zehn Jahre später diese Bilder noch so präsent sind? Weil sie nicht das Ende der Entwicklung des 1. FSV Mainz 05 darstellten, sondern den eigentlichen Beginn. Weil dieses in der Konzentration noch nie dagewesene Pech einer Mannschaft im deutschen Profifußball und die trotzige Reaktion der Verantwortlichen und Fans den Mainzern bundesweite Sympathien einbrachte und, viel wichtiger, eine ganze Generation Mainzer Fußballfans prägte. Weil es dem über Jahrzehnte wenig bedeutsamen Klub eine eigene Geschichte einbrannte und einen Widerstandsgeist und eine Emotionalität weckte, die zum Charakter dieses Vereins wurden.
„Sagt mir bitte eine Stadt, sagt mir eine Mannschaft, sagt mir irgendwelche Fans auf der Welt, die in der Lage wären, nach so einem Schmerz, wie wir ihn letztes Jahr hatten, so eine Saison zu spielen, wie die letzte, nach so einem Schmerz, wie wir ihn gestern hatten, so eine Saison zu spielen wie die nächste - es gibt dafür keinen anderen Verein außer Mainz 05“, beschwor Trainer Jürgen Klopp einen Tag nach den traumatischen Erlebnissen 15.000 Fans vor dem Mainzer Theater. Dort, wo am Tag zuvor tausende Fans die Liveübertragung aus Braunschweig verfolgt hatten, gab es zwar keine Aufstiegsparty, doch hier manifestierte sich jene Aufbruchsstimmung, welche die Nullfünfer ein Jahr später dann doch zum frenetisch umjubelten Aufstieg trieb. Am 23. Mai 2004 ergab das Trauma von Braunschweig plötzlich einen Sinn. Für den 1. FSV Mainz 05 bedeutete dies so etwas wie eine zweite Geburtsstunde des Vereins.
Erinnerung an den Gemeinschaftssinn
Und nun, zehn Jahre später? Die Wunden von einst sind längst geheilt. Die Nullfünfer haben sich schon von den Erlebnissen befreit und ihre eigene sportliche Erfolgsgeschichte geschrieben. Wenn nun Eintracht Braunschweig zum ersten gemeinsamen Pflichtspiel nach zehn Jahren in die Coface Arena kommt, geht es mitnichten darum, alte Rechnungen zu begleichen. Da ist schon eher die Wiedersehensfreude ein Thema. Trainer Torsten Lieberknecht und vier Spieler seines Kaders - Marco Caligiuri, Damir Vrancic, Daniel Davari und Benjamin Kessel – sind ehemalige Nullfünfer.
Und natürlich ist da die sportlich angespannte Situation beider Klubs. Eintracht Braunschweig hängt trotz aufsteigender Formkurve und dem ersten Bundesliga-Sieg beim VfL Wolfsburg auf dem letzten Tabellenrang fest. Und die Nullfünfer stehen nach sieben Pflichtspielen mit sechs Niederlagen und ohne Sieg ebenfalls unter Erfolgsdruck. Aus Mainzer Sicht kommt da vielleicht die Erinnerung an jenen Moment in Braunschweig, der in Mainz den großen Gemeinschaftssinn beschwor und eine eigene Identität stiftete, gerade zum richtigen Zeitpunkt.