Profis 19.12.2012 - 12:06 Uhr
Schotten dicht, Wasser marsch!
Wie Thomas Tuchel die Schlussphase auf Schalke erlebte
Die Nullfünfer haben die Hinrunde mit einem Kracher abgeschlossen. Pokalcoup beim FC Schalke 04, dem Achtelfinalisten der Champions League, die fünfte Qualifikation für das Viertelfinale im DFB-Pokal der Vereinsgeschichte. Errungen nicht mit dem elegantesten Auswärtsauftritt der Saison, aber mit einer kämpferischen Bravourleistung auf der allerletzten Rille in einer am Ende emotional bis zum Anschlag aufgedrehten Partie.
Dabei nahm dieses Pokal-Achtelfinale erst nach gut einer Stunde Spielzeit so richtig Fahrt auf. Jermaine Jones setzte für die Schalker, die dem Rückstand durch den Treffer von Marco Caligiuri hinterher liefen, ein Zeichen, indem er genau diesen an der Seitenlinie vor der Mainzer Trainerbank übel umgrätschte. Coach Thomas Tuchel sprang spontan zu den ineinander verkeilten Spielern. „Ich habe das Foul gesehen und sofort befürchtet, dass sich Marco ernsthaft verletzt hat“, beschrieb Tuchel die Szene. „Jermaine Jones hat sich entschuldigt und wollte Marco sofort hochziehen, ich wollte die beiden trennen und habe ihm nur gesagt, dass er sich nach dem Tritt die Entschuldigung einfach sparen könne.“ Ein kurzes, heftiges Wortgefecht und ein Textiltest des Schalkers an des Trainers Jacke folgten – und Gelb für den Schalker und Tribünenverweis für Tuchel, ausgesprochen von Schiedsrichter Marco Fritz. „Für das Betreten des Platzes“, wie der Mainzer Trainer später aufklärte.
Damit begannen die Leiden des Thomas Tuchel. Der des Coachings beraubte Trainer wollte sich nicht auf der Haupttribüne dem Unmut der Schalker Fans aussetzen und stapfte in die Mixed-Zone, den mit Fernsehern und dem Live-Bild des übertragenden Senders Sky ausgestatteten und zu diesem Zeitpunkt noch verwaisten Interviewbereich zwischen den Kabinen. Dort erlebte Tuchel den Ausgleich und die wütende Schalker Drangphase. Kaum auszuhalten: Die Stadionatmosphäre, das Jubeln und Stöhnen der Zuschauer, bekam der Mainzer Coach in Echtzeit auf die Ohren, das dazu passende Fernsehbild technisch bedingt erst mit einigen Sekunden Zeitversatz zu sehen. „Bei unserem zweiten Tor stehe ich da gemeinsam mit unserem Video-Analysten Benny Weber. Der Ball ist im Fernsehbild noch vor unserem Tor, aber wir hören draußen einen zarten Jubel. Da ist ein Tor gefallen, sage ich noch. Aber nicht für Schalke …“ Stimmte. Der TV-Beweis: Langer Ball von Jan Kirchhoff auf Nicolai Müller – 2:1 für die Mainzer. Jubel in der Mixed-Zone, Thomas Tuchel und Benny Weber übten Paartanz.
Die Schalker antworteten mit Dauerdruck. „Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin in die Kabine. Dort gab es keine Fernseher. Ich habe die Wasserhähne aufgedreht, damit ich durch das Rauschen des Wassers auch die Stadionatmosphäre nicht mehr höre“, berichtete Tuchel. Ein Trainer wie ein Kind beim TV-Krimi, das sich vor Spannung unter einer Decke verkriecht, aber dennoch immer durch einen Spalt zum Fernseher linsen möchte, um bloß nichts zu verpassen. Tuchel blieb denn auch nicht lange derart hermetisch abgeschottet. Erster Gast in der Kabine: eine Dame des Caterers in Vorbereitung der üblichen kulinarischen Versorgung der Spieler. „Nachher gibt es Steaks für die Mannschaft“, kündigte diese an und ging wieder. Welche Nullinformation für den ja eigentlich nach Hinweisen zum Spielverlauf dürstenden Trainer …
Dann wieder – Schritte. Physiotherapeut Stefan Stüwe huschte in die Kabine um eine Salbe zu holen. Update für den Trainer: die Führung hält, aber fünf Minuten Nachspielzeit. Das Warten geriet zur nervlichen Zerreißprobe. Plötzlich tauchte Walter Notter auf. Der Mainzer Zeugwart trug einen Stapel Mützen und wärmende Klamotten in die Kabine und verpackte diesen in aller Seelenruhe in seine Koffer - ohne vom zappelnden Trainer groß Notiz zu nehmen. Tuchel stellte ihn zur Rede. „Ich habe ihn angefaucht: Was ist los? Ist es vorbei? Was machst du hier? Wieso packst du das weg, wenn es noch Verlängerung geben kann?“ Walter Notter tiefenentspannt: „Spiel läuft noch. Mann, da draußen geht es zu ... Aber da passiert nichts mehr. Ich sage dir, wenn es vorbei ist.“ Sprach er und schlenderte wieder aus der Kabine. Eine Minute später: Walter Notter stand in der Tür, in den Händen den nächsten Stapel Klamotten, und die entscheidende Information: „Jetzt ist es aus!“
Das finale Signal für den Trainer: wieder raus zur Mannschaft auf den Rasen, die Spieler herzen, Emotionen abbauen, den Moment genießen. Später, nach der Pressekonferenz, gab er seine Erlebnisse zum Besten und fasste seine Gemütslage zusammen. „Das fühlt sich großartig an und ist ein toller Schlusspunkt für eine super Hinrunde. Wir haben auswärts schon geordneter und cleverer gespielt und verteidigt. Aber die Mannschaft hat wieder eine extrem aufopferungsvolle Verteidigungsleistung gezeigt. Man brauchte in der zweiten Halbzeit schon viel Fantasie, um sich diesen Spielverlauf zu unseren Gunsten vorzustellen. Aber vielleicht war dieser dreckige Sieg die Belohnung für viele Auswärtsspiele, in denen wir für unsere dominantes Spiel nichts bekommen haben.“
Selten haben sich die Nullfünfer sich und ihre Fans mit einem besseren Gefühl in die Winterpause verabschiedet. Am Mittwochabend nach dem Pokalspiel zwischen Borussia Dortmund und Hannover 96 dürfen alle Mainzer bei der Auslosung des Viertelfinales im DFB-Pokal mitfiebern und am 26. oder 27. Februar um das Halbfinale kämpfen. Und in der Bundesliga-Tabelle im Videotext grüßt die Mannschaft für die nächsten Wochen von Platz sechs. Frohe Weihnachten!