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Profis 14.12.2022 - 10:00 Uhr

Schürrle: "Ich musste verzichten, hatte aber einen Traum"

Das 05-Eigengewächs über sein neues Leben nach dem Fußball, seinen Selbstfindungsprozess, die Zeit am Bruchweg sowie das kürzliche Wiedersehen mit Bo Svensson.

20 Bundesliga-Treffer durfte Schürrle zwischen 2009 & 2011 im 05-Trikot bejubeln.

Zehn Wochen ohne Bundesliga-Fußball unserer 05ER - das dauert viel zu lange, oder? Wir wollen diese Zeit mit gemeinsamen Erinnerungen überbrücken und haben uns etwas Besonderes ausgedacht: Der diesjährige Adventskalender steht ganz im Zeichen der 05-Legenden.

 

Passend zur früheren Rückennummer eines Ehemaligen präsentieren wir euch auf unserer Website täglich Mainzer Fußball-Geschichte und Geschichten zu unseren ehemaligen Profis. Unseren bewährten Adventskalender mit täglich neuen Gewinnchancen von Mainz 05 und unseren Partnern erreicht ihr auch über die Story auf unserem Instagram-Kanal.

 

Präsentiert wird der Kalender auch in diesem Jahr von Haupt- und Trikotsponsor Kömmerling.

Vor zweieinhalb Jahren beendete André Schürrle im Alter von 29 Jahren eine große Karriere. Überraschend für viele Fans, für das Mainzer Eigengewächs, das als Deutscher U19-Meister, Weltmeister, DFB-Pokalsieger und Englischer Meister abtrat, allerdings die konsequente Entscheidung im Anschluss an einen langen Prozess. Ein logischer Schritt im Sommer 2020, den Schürrle bis heute nie bereut hat. Die Prioritäten in seinem Leben haben sich verschoben, die Liebe zum Fußball bleibt. 

14.12.2022

Grüße aus der Hauptstadt

Als wir André erreichen, spaziert er durch Berlin, während der einjährige Sohn schläft. Zeit mit der Familie steht für den Weltmeister von 2014 heute an erster Stelle. Zeit, die er gegen nichts mehr eintauschen würde. Den beiden Kindern – die Tochter von ihm und seiner Frau Anna ist mittlerweile dreieinhalb Jahre alt – beim Aufwachsen zusehen zu können und zu erleben, wie sie Schritt für Schritt ihren eigenen Charakter entwickeln sei "letztendlich das Schönste, was es gibt und was mir persönlich ganz wichtig war", erklärt der im November 32 Jahre alt gewordene Ex-Profi. "Ich bin im Moment 100 Prozent 'Family-Dad'. Es ist eine besondere Zeit mit den Kindern in ihrem Alter. Ich liebe es, Zeit mit ihnen zu verbringen, und sich dessen sicher sein zu können, dass sie einen Papa haben, der da ist und sie zu 100 Prozent kennt. Dem gilt mein voller Fokus."

Die Familie, und allen voran die damals wenige Monate alte Tochter, waren es nach dem Schlussstrich unter das Kapitel Profifußball gewesen, die es ihm leicht gemacht hatten, eine neue Struktur zu finden im Leben. Raus aus der Öffentlichkeit, durchatmen und vor allem „weg von der Fremdbestimmung“, die zum Leben eines Profis gehöre. "Ein Kind gibt einen Rhythmus vor. Das war, glaube ich, für mich ganz wichtig, um nicht in ein Loch zu fallen und eine klare Aufgabe und Struktur zu haben", sagt er rückblickend. In Frage gestellt hat Schürrle die Entscheidung aber ohnehin zu keinem Zeitpunkt, wie er betont. Das Gefühl, den richtigen Moment zu wählen, um die Schuhe an den Nagel zu hängen, war lange gereift in den letzten Monaten seiner Karriere. "Fußball hat mir immer so viel bedeutet und bedeutet mir immer noch viel. Das gibt man nicht einfach so auf: Ich stand zu 1000 Prozent hinter der Entscheidung, an der es für mich keinen Hauch von Zweifel gab. Ich wusste, dass der Zeitpunkt gekommen ist, ein neues Leben anzufangen."

Im Juni 2009 feierte Schürrle mit den Teamkollegen den ersten Meistertitel in der Geschichte des Nachwuchsleistungszentrums.

Tuchels Feuer & "unglaublich viel Spaß"

So hat er ein neues Kapitel als Familienmensch aufgeschlagen, befindet sich aber gleichzeitig in einem Prozess der Selbstfindung, auf der Suche nach dem für ihn künftig richtigen Weg. Für diese Suche möchte er sich so viel Zeit wie nötig nehmen und nichts ausschließen nach seiner überaus erfolgreichen Reise als Fußballer, die einst am Bruchweg begonnen hatte. Die Erinnerung an den Sommer 2009, als die U19 der 05ER Borussia Dortmund im Finale um die Deutsche Meisterschaft sensationell mit 2:1 bezwungen hatte und damit den bislang einzigen nationalen Titel feiern durfte, sei zwar nach all der Zeit "ein wenig schummrig". Dennoch erklärt Schürrle, dass damals die Weichen gestellt worden seien für die folgenden Jahre: "Ich weiß noch, dass wir einfach eine echte Mannschaft waren und unglaublich viel Spaß hatten, auf Reisen, bei den Spielen. Wir hatten einen großartigen Zusammenhalt und mit Thomas Tuchel einen Trainer, der dieses Feuer hatte und uns auf so vielen Ebenen weitergebracht, aber auch gequält hat. Uns allen war klar, dass wir viel erreichen können. Nach dem Finale wussten wir allerdings nicht so recht, was da gerade passiert war, das war fast unwirklich. Diese Saison, dieser Schwung, dieses Selbstbewusstsein hatten einen enormen Anteil für meine gesamte Karriere. Das hat mir den Glauben gegeben, weit zu kommen, mehr zu schaffen, und den Hunger so richtig geweckt", so der gebürtige Ludwigshafener, der 2006 ins Mainzer Nachwuchsleistungszentrum gewechselt war und rückblickend ausschließlich Positives zu berichten weiß. "Ich musste auf Dinge verzichten, hatte aber einen Traum, den ich unbedingt verfolgen wollte. Dann fühlt sich das auch gut an als junger Spieler, und so erinnere ich mich zurück. Ich habe in Mainz immer sehr viel Vertrauen gespürt, beispielsweise von Stefan Hofmann, Volker Kersting oder Paul Faß. Es war immer sehr familiär, ich habe mich zu jeder Zeit wohlgefühlt. Diese Liebe, Fürsorglichkeit und Anerkennung, die Mainz 05 auszeichnen, haben einen großen Beitrag geleistet, um meinen Weg zu gehen. Wenn ich heute mit meinen Eltern spreche, dann schwärmen wir gemeinsam in den höchsten Tönen über die Zeit damals."

Was er jungen Talenten auf dem Sprung zum Profi heute raten würde? "Spaß haben, Freunde treffen. Häufig hört man, dass es im NLZ nur um Fußball und Taktik geht. Aber es sind Kinder, die gar nicht wissen, was alles passieren kann im Leben. Man kann sich eine gewisse Zeit lang nur fokussieren auf Fußball, Fußball und nochmal Fußball. Aber der Ausgleich, ob allein oder mit Freunden, ist so wichtig. Wenn man sich nur auf eine Sache fokussiert über Jahre, nutzt sich das ab. Diese Balance im Leben braucht jeder Mensch."

Ein steiler Aufstieg

Für Schürrle war es nach der Meisterschaft steil nach oben gegangen. Nur wenige Wochen nach dem Triumph feierte er unter Tuchel sein Bundesliga-Debüt und seine ersten Treffer im Oberhaus. 68 Pflichtspiele und 20 Treffer (8 Assists) im FSV-Trikot sollten es werden bis zu seinem Abschied nach Leverkusen nach der Saison 2010/2011. Ein wilder Ritt und Traumstart als Profi, allen voran im altehrwürdigen Bruchwegstadion. "Für mich war es irgendwo normal dort zu spielen, aber dennoch besonders. Wenn ich jetzt darauf schaue, hat es nochmal einen anderen Stellenwert, in diesem Stadion gespielt zu haben. Es gibt heute fast nur noch diese hochmodernen Arenen. Diese Nähe, die Lautstärke, die Stahlrohrtribünen, auf denen meine Familie lange gesessen hat. Die Atmosphäre hat Mainz 05 immer ausgezeichnet, weil die Fans bedingungslos dahinterstanden", erinnert sich Schürrle an seine Jahre als 05-Profi. "Diese ersten zwei Jahre verliefen wie im Film. Dass Thomas Tuchel Trainer wurde, war für mich natürlich der größte Segen überhaupt. Ich war sein U19-Kapitän gewesen, er wusste, was er an mir hat, und hat mich in jedem Spiel reingeschmissen. Das hat mir den Weg geebnet. Wir hatten eine geile Mannschaft, jede Menge Spaß und haben Party gemacht. Es ist so gut gelaufen", blickt Schürrle zurück.

Saison 2012/13: André (mittlerweile Leverkusener) im Zweikampf mit Bo.

Nach dem Wechsel zu Bayer 04 und dem Aufstieg in die Champions League sowie zum Nationalspieler habe sich viel verändert. Die Leidenschaft war nach wie vor da, aber "es wurde immer mehr ein Business, ging um Performance und Druck. Das ist an der Spitze normal, aber gleichzeitig viel Stress", beschreibt der Ex-Mainzer seine Gefühlslage als zwar privilegierter, aber auch sensibler Profi, der später noch für Chelsea, Wolfsburg, Dortmund, Fulham und Spartak Moskau auflaufen sollte und zu einem relativ frühen Zeitpunkt seiner Karriere einen Entschluss gefasst hatte. "Ich habe mir immer gesagt: 'Wenn ich irgendwann in der Sommerpause kein Kribbeln mehr habe und keinen Drang zu trainieren, dann ist es vorbei.' Das hat sich erst in der letzten Phase eingestellt. Ich bin weniger gerne zum Training gegangen, war weniger bereit, extra zu investieren. Die Leidenschaft zu spielen und alles zu geben, war einfach weg", der Rücktritt vom Leistungssport die Folge. Eine Entscheidung, die er für sich allein getroffen hatte, wie ihm wichtig ist zu betonen: "Ich war ohne Zweifel in der sehr privilegierten Situation, sehr viel erreicht zu haben, sportlich wie finanziell. Viele, inklusive meines Umfelds, haben meine Entscheidung anfangs nicht verstanden, es mir aber trotzdem leicht gemacht, dazu zu stehen. Für mich war es ohnehin klar und in dem Augenblick egal, was andere sagen. Diesen Mut hatte ich bei dieser Entscheidung für mein Leben", unterstreicht Schürrle die persönliche Bedeutung des Moments. 

Gemeinsames Engagement für sauberes Trinkwasser

Wiedersehen mit Bo

Seither genießt er alle Freiheiten der Fußball-Rente und ist zu Beginn der laufenden Fußball-Weltmeisterschaft nach Südafrika gereist, anstatt eine Wintervorbereitung zu absolvieren oder gar selbst am Turnier teilzunehmen. Und hat dort, gemeinsam mit seinem ehemaligen Mitspieler Bo Svensson, das erste Gruppenspiel der deutschen Elf gegen Japan verfolgt. Ein zufälliges Treffen in der "Villa Viva" in Kapstadt, die zur Non-Profit-Organisation "Viva con agua“ gehört. Sowohl er als auch Svensson unterstützen das Projekt, und nutzten die Gelegenheit, um in Erinnerungen zu schwelgen. Besonders lebhaft in Erinnerung ist Schürrle die Passgenauigkeit des heutigen 05-Cheftrainers: "Wir haben uns immer gut verstanden. Bo hat mich aber auch regelmäßig angeschrien, als ich zu den Profis dazu gekommen bin", sagt er und erklärt lachend. "Er war linker Innenverteidiger, ich Linksaußen, und es gab diesen Spielzug, bei dem ich in die Mitte ziehen und er mich zwischen den Linien anspielen sollte. Er war ein so guter Passgeber, dass ich Angst hatte, an den Ball zu kommen. Denn wenn ich den verschlampt habe, dann gab es jedes Mal deutliche Ansagen an mich. Das Wiedersehen jetzt war sehr lustig, wir haben uns nett unterhalten in Südafrika und hatten auch über die Jahre zuvor immer mal wieder Kontakt."

Wenngleich der Ex-Profi den Sport weiter verfolgt, verspürt er keinerlei Bedürfnis, selbst gegen den Ball zu treten, wie er sagt. Ob es ihn nicht jucke, werde er, gerade während der laufenden WM des Öfteren gefragt: "Es juckt gar nicht", entgegnet er dem. "Vielleicht brauche ich noch mehr Abstand, um es genießen zu können, irgendwann wieder einfach ein bisschen rumkicken zu können. Was ich aber immer noch liebe ist es, mir gute Fußballspiele anzuschauen", so Schürrle, dessen Tochter mit derlei Aktivitäten jedoch nur selten einverstanden ist. Zwar müsse er ihr regelmäßig erklären, weshalb Menschen Bilder mit dem Papa machen wollen oder ihr Videos aus seiner Zeit als Fußballer vorführen. Die Begeisterung teilt sie derweil (noch) nicht. "Ihre Lieblingsbeschäftigung ist es, den Fernseher auszumachen, wenn Fußball läuft", erzählt der Familienvater und lacht.

Unabhängig davon, welche Rolle der Fußball später einmal in ihrem Leben spielen wird, weiß Schürrle bereits heute, welche Erkenntnisse seiner Karriere er seinem Nachwuchs mit auf den Weg geben möchte: "Was ich ihnen vermitteln möchte, ist ganz eindeutig, dass man seine Ziele, unabhängig vom Talent, mit harter Arbeit verfolgen muss und erreichen kann. Das kann ich aus meiner Reise im Fußball mitnehmen und will ich ihnen für ihr Leben mitgeben. Es wird immer Höhe- und Tiefpunkte geben, aber gleichzeitig stets einen Weg, an sich selbst zu arbeiten, um Dinge zu verbessern", so Schürrle.