Tuchel vor der Reifeprüfung

Im Sommer 2016 hat Borussia Dortmund einen der wohl größten Umbrüche der Vereinsgeschichte hinnehmen müssen. In Kapitän Mats Hummels, Topscorer Henrikh Mkhitaryan sowie Mittelfeld-Stratege Ilkay Gündogan verließen gleich drei Eckpfeiler den Vizemeister. Ersetzt werden sie nicht eins zu eins, vielmehr sollen die Abgänge durch mehr Breite im Kader der Borussen aufgefangen werden. Dazu wurden die Weltmeister André Schürrle und Mario Götze sowie Sebastian Rode, Ousmane Dembelé, Mikel Merino, Emre Mor, Marc Bartra und der portugiesische Europameister Raphael Guerreiro verpflichtet.

Gefragt ist nun vor allem ein Mann –  Trainer Thomas Tuchel. Er steht in der 54. Bundesliga-Saison vor seiner Reifeprüfung. Am ersten Spieltag (Samstag 15.30 Uhr) trifft er mit dem 1. FSV Mainz 05 nicht nur auf den Klub, bei dem er vom A-Jugend- zum Bundesliga-Trainer aufstieg, sondern zudem auf Martin Schmidt, den er einst persönlich zu den 05ern lotste und förderte. Reichlich Spannung also im Signal-Iduna-Park beim Aufeinandertreffen zweier Trainer, die sich bestens kennen und in ihrem fußballerischen Selbstverständnis von ähnlichen Spielphilosophien geprägt sind. Dennoch dürfte nicht allein der bessere Matchplan über den Spielausgang entscheiden, liegen doch zwischen beiden Vereinen auch aus wirtschaftlicher Sicht Welten. So investierte die Borussia rund 110 Millionen Euro in sein neues Tafelsilber, während zwar auch unsere 05er einen neuen Transferrekord aufstellten – dieser fiel mit rund 21 Millionen allerdings vergleichsweise bescheiden aus. Wenn auch allein der Blick auf diese Zahlen nahelegt, dass für unseren FSV auch das gewisse Quäntchen Matchglück vonnöten sein wird, um im ersten Auswärtsspiel der Saison Zählbares mit zurück an den Bruchweg zu nehmen. Der favorisierte BVB befindet sich zwangsläufig in einer Phase der Selbstfindung. Vorteil FSV: Unser Team ist eingespielt, kann, abgesehen von den Abgängen der Leistungsträger Julian Baumgartlinger und Loris Karius, auf eine weitestgehend harmonierende Mannschaft setzen.

Neues Erfolgskonstrukt entwickeln

Beim Gegner müssen sich sowohl auf als auch neben dem Platz neue Hierarchien und Strukturen entwickeln. So ist die Kapitänsfrage bislang ungeklärt, Nationalspieler Marco Reus fällt zudem verletzungsbedingt noch wochenlang aus. "Der Weg ist lang, aber es macht viel Spaß, ihn mit dieser Mannschaft zu gehen", sagt Tuchel, wenn auch ihm bewusst ist, dass Rückschläge auf der Reise nicht ausgeschlossen sind. Der Abgang dreier Spieler von Weltklasse-Format hinterließe wohl bei jedem Team der Welt seine Spuren. Vergangenen Sommer gehörte das Trainerteam zu den wenigen Neuzugängen in Dortmund. Tuchel konnte die Mannschaft nach seinen Vorstellungen weiterentwickeln, ein stabiles Grundgerüst war bereits vorhanden. Nun gilt es für die Borussia, ein neues Erfolgskonstrukt zu entwickeln, um den Abstand auf den FC Bayern in der Liga nicht größer werden zu lassen und die Bundesliga in der Champions League würdig zu vertreten.

Ohne Zweifel erwartet unsere 05er im Hexenkessel Signal-Iduna-Park trotz allem eine Herkules-Aufgabe. Auch ohne Reus sowie die drei erwähnten Abgänge ist der Kader des BVB gleichermaßen mit Talent wie auch mit Erfahrung und individueller Klasse gespickt. Dennoch dämpft man die Erwartungshaltung in Dortmund auch von höchster Stelle: "Wir können nach dem Verkauf dreier absoluter Weltklassespieler nicht sagen: Jetzt holen wir acht Neue und das läuft wieder", betonte Hans-Joachim Watzke, der Vorsitzende der Geschäftsführung, zuletzt in einem Interview mit der "Sport Bild" und fügt an: "Die Saison wird schwieriger als erwartet."