Profis 20.12.2022 - 10:40 Uhr
Voronin: "Klopp sagte: 'Nein, du wirst spielen'"
05-Legenden-Adventskalender: Tür Nummer 20
Zehn Wochen ohne Bundesliga-Fußball unserer 05ER - das dauert viel zu lange, oder? Wir wollen diese Zeit mit gemeinsamen Erinnerungen überbrücken und haben uns etwas Besonderes ausgedacht: Der diesjährige Adventskalender steht ganz im Zeichen der 05-Legenden.
Passend zur früheren Rückennummer eines Ehemaligen präsentieren wir euch auf unserer Website täglich Mainzer Fußball-Geschichte und Geschichten zu unseren ehemaligen Profis. Unseren bewährten Adventskalender mit täglich neuen Gewinnchancen von Mainz 05 und unseren Partnern erreicht ihr auch über die Story auf unserem Instagram-Kanal.
Präsentiert wird der Kalender auch in diesem Jahr von Haupt- und Trikotsponsor Kömmerling.
Als junger, spielstarker Torjäger machte sich Andrey Voronin Anfang des Jahrtausends einen Namen am Bruchweg und darüber hinaus. Dabei war der Start kein einfacher gewesen, der Abschied aus Mainz nach nur wenigen Spielen im 05-Trikot bereits angebahnt. Später spielte der Ukrainer unter anderem für Bayer Leverkusen und den FC Liverpool, bevor er seine Karriere vor gut acht Jahren im Trikot von Dynamo Moskau beendete. Derzeit ist der Fußball im Leben des Familienvaters zweitrangig, eine Rückkehr ins Geschäft aber nicht ausgeschlossen.
Seine volle Aufmerksamkeit gilt seiner Familie, der es in Düsseldorf gut geht. Die beiden sechs und 15 Jahre alten Söhne spielen begeistert Fußball, gehen zur Schule. Normaler Familienalltag also im Hause Voronin. So wie bis zum Sommer 2021, bevor seine Frau mit den Kindern nach Moskau gezogen war, wo der ehemalige Profi als Co-Trainer von Sandro Schwarz arbeitete – zumindest bis zum 24. Februar dieses Jahres. "Es war wie ein Horrorfilm", schildert der 43-Jährige seine "Flucht" aus Russland binnen weniger Tage, nachdem das Land den Krieg gegen die Ukraine begonnen hatte. Ein Gespräch über drei Jahre am Bruchweg, ein besonderes Treffen mit Jürgen Klopp in Kiew sowie die Situation in seiner Heimat.
Drama in Braunschweig, großer Bahnhof in Mainz
Als einer der Publikumslieblinge verabschiedete sich Andrey Voronin im Sommer 2003 nach 20 Saisontoren aus Mainz, als einer der tragischen Helden und Nichtaufsteiger. Eine der bittersten Stunden seiner damals noch jungen Profikarriere zum Ende "meiner mit besten Zeit, die ich als Spieler erleben durfte", wie er heute sagt. Wenngleich sie mit Tränen endete, die bis heute nachhallen beim Mann aus der südukrainischen Stadt Odessa: "Die beiden Nichtaufstiege bleiben unvergessen, das war eine Katastrophe. Ich erinnere mich, wie wir beim zweiten Mal in Mainz ankamen nach der Zugfahrt – wirklich alle waren am Weinen. Aber der Bahnhof war voll mit Fans. Dann sind wir zu der großen Bühne in der Stadt gefahren, wo Tausende auf uns gewartet haben. Diese zwei Jahre sind immer präsent, schlimmer konnte es nicht kommen", so Voronin, der das dramatische Ende von Braunschweig genau vor Augen hat, als Eintracht Frankfurt dem FSV den erstmaligen Aufstieg durch zwei Treffer in der Nachspielzeit noch entrissen hatte: "Wir standen nach dem Abpfiff zusammen im Kreis und haben gewartet. Nach dem Schlusspfiff in Frankfurt sind alle auseinander gegangen, jeder musste es für sich verarbeiten, das war bitter. Das eine Mal sind wir wegen eines Punkts, das andere Mal wegen eines Tores nicht aufgestiegen: Ich glaube, das Gefühl von damals empfindest du in dieser Ausprägung nicht mal, wenn du ein Champions-League-Finale oder ein WM-Finale verlierst", mutmaßt der Ex-Torjäger, dem für die Mainzer zwischen 2000 und 2003 in 79 Pflichtspielen 30 Treffer gelangen.
Umso bemerkenswerter sei die Mainzer Wiederauferstehung im folgenden Jahr gewesen, die er persönlich kaum für möglich gehalten habe. "Viele Vereine sind nach solchen Erlebnissen am Boden und kommen erstmal nicht wieder hoch. Ich bin nach Köln gegangen, aber die Mainzer waren danach noch stärker und sind aufgestiegen. Nach diesen beiden unfassbaren Jahren, das können nicht viele. Die Mannschaft war zum großen Teil zusammengeblieben, und sie wollten es allen zeigen – mit Klopp als Motivator und den Fans, die immer für eine ganz besondere Atmosphäre gesorgt haben am Bruchweg. Ich habe sie seitdem in mein Herz geschlossen, wegen der Jahre in Mainz, aber auch, weil ich mich erinnere, wie sie später als Gegner zur Begrüßung meinen Namen gerufen haben."
Klopp im Recht & auf ein Bier vor dem Champions-League-Finale
Jener Jürgen Klopp war im Übrigen auch derjenige gewesen, der einem Abschied Voronins nach nur wenigen Monaten Anfang 2001 einen Riegel vorgeschoben hatte. Zunächst jedoch zum völligen Unverständnis des Spielers, der im Sommer zuvor mit reichlich Vorschusslorbeeren sowie seinen ersten Bundesliga-Einsätzen ausgestattet aus Mönchengladbach verpflichtet worden war und nach wenigen Einsatzminuten zu Saisonbeginn auch unter seinem ehemaligen Mitspieler zunächst einen schweren Stand hatte. "Ich weiß nicht, warum er mich nicht gehen lassen wollte – ich hatte schon ein Angebot zum Probetraining in Holland“, erinnert sich Voronin. "Klopp sagte: 'Nein, du wirst spielen, deine Zeit kommt.' Ich habe ihm geantwortet, dass jeder Trainer das Gleiche erzähle, sich aber nichts ändere. Ich wollte einfach auf dem Platz stehen und Fußball spielen. Irgendwie hat er mich trotzdem überzeugt." Und wie so oft in der Vergangenheit, sollte Klopp recht behalten.
"Die Atmosphäre in der Mannschaft war unter ihm sehr schnell nicht mehr zu vergleichen mit den Monaten zuvor, und wir haben die Klasse am Ende gehalten. Zu Beginn der Saison 2001/2002 wurden meine Einsatzzeiten immer mehr, bald danach war ich Stammspieler, ich glaube spätestens nach meinen zwei Toren in Mannheim im Herbst (Anm. d. Red.: 4:2-Auswärtssieg). Der Austausch mit Klopp wurde immer besser, er hat viel mit mir gesprochen und ich hatte auf dem Platz jede Menge Freiheiten", erzählt Voronin.
Dass das Verhältnis zum FSV und allen voran zu dessen damaligem Cheftrainer von großer Wertschätzung geprägt war und ist unterstreichen zwei Anekdoten, an die der Ukrainer sich erinnert. Zum einen durfte er der Aufstiegsfeier, die für ihn ein Jahr zu spät kam – stattdessen stieg er mit dem 1. FC Köln aus der Bundesliga ab und wechselte zu Bayer Leverkusen -, dennoch beiwohnen: "Ich wollte an dem Tag nur am Telefon gratulieren, dass sie es nun endlich geschafft haben. Klopp hat gesagt, ich solle vorbeikommen. Dann bin ich ins Auto gestiegen und habe mitgefeiert." Zum anderen vergaß der heutige Welttrainer das von ihm einst trainierte Talent auch im Anschluss nie und lud Voronin 2018 in Kiew rund um das Champions-League-Finale zwischen Liverpool und Real Madrid ins Teamhotel der Engländer ein. Eine große Geste, wie Voronin betont: "Am Tag vor dem Spiel – ich war mit meinem Sohn dort – hat Jürgen mich ins Hotel eingeladen. Wir haben uns hingesetzt, über die Mainzer Zeiten gesprochen, gelacht und ein Bierchen getrunken. Mein Sohn hat Fotos mit ihm gemacht. Das war etwas Besonderes, man muss sich vorstellen: einen Tag vor einem der wichtigsten Spiele der Karriere. Das macht nicht jeder, ich war sehr dankbar und werde es nie vergessen.“
"Papa, es ist Krieg"
Es sind Erlebnisse, über die Voronin zwar nach wie vor und in aller Ausführlichkeit mit Begeisterung spricht, die aber an Bedeutung verlieren, wenn er mit der Gegenwart konfrontiert wird. Mit dem Krieg in der Heimat, die sein letztes Engagement als Trainer von jetzt auf gleich beendet hatte. An den Tag des russischen Angriffs vor knapp zehn Monaten erinnert er sich wie folgt: "Ich wollte meine Kinder am 24. Februar wie immer in ihre deutsche Schule in Moskau und danach zum Training bei Dynamo fahren“, erinnert sich der 43-Jährige. "Aber die Kinder haben mich an dem Tag geweckt und gesagt: 'Papa, es ist Krieg.‘“ Was folgte: Gedanken sortieren und sich das Unvorstellbare vor Augen führen. "Ich war in den nächsten Stunden nur am Zittern, habe viel geweint und mit vielen Ukrainern gesprochen. Man wollte verstehen, was vor sich geht und warum, auch wenn es schwer ist, eine Antwort zu finden. Zum Glück waren sowohl mein Vater als auch meine Schwiegermutter gerade bei uns. Irgendwann habe ich Sandro angerufen und gesagt, dass ich nicht zum Training kommen kann. Fünf, sechs Stunden später habe ich ihm gesagt, dass wir unter den Umständen nicht in Russland bleiben und arbeiten können, nachdem das Land einen Krieg gegen uns angefangen haben. Zwei Tage später bin ich mit den Kindern schon nach Deutschland geflogen, kurz darauf wurde mein Vertrag dann aufgelöst“, berichtet Voronin, dem es nach wie vor schwerfällt, die passenden Worte zu finden: "Ich kann es gar nicht wirklich beschreiben. Meiner Familie und mir geht es gut und ich sehe die Bilder nur von Deutschland aus. Ich kann nur beten, dass dieser Krieg so schnell wie möglich vorbei ist und alle in ihre Heimat zurückkehren können.“ In eine Heimat, in der Millionen der Zurückgeblieben derzeit regelmäßig stundenlang in Bunkern verharren müssen, keinen Strom, kein warmes Wasser oder keine Heizung haben. Dennoch, so weiß Voronin zu berichten, haben sich die Ukrainer, so gut es geht, arrangiert mit der "furchtbaren Situation", wie er sagt, und bleiben positiv: "Die Menschen, die ich kenne, sind überzeugt, dass wir diesen Krieg gewinnen und in unserem Land wieder Frieden herrschen wird. Dennoch weiß niemand, was morgen oder in den nächsten zwei Stunde passiert. Sie versuchen, den Alltag so normal wie möglich weiterzuleben."
So normal und sorgenfrei wie möglich möchte Voronin selbstredend seine Söhne aufwachsen sehen, für die er aktuell reichlich Zeit hat und dies genießt. Ob sie sein Talent geerbt haben? "Ich hoffe, sie werden besser, so gut war ich nicht", sagt Voronin, das Lachen ist für einen Moment zurück. Und wenngleich ihn die Rolle derzeit glücklich macht, liebäugelt er doch mit einer Rückkehr auf den Fußballplatz, nachdem es im Sommer nicht geklappt hatte mit einer weiteren Zusammenarbeit im Trainerteam von Sandro Schwarz bei Hertha BSC. "Wenn ein passendes Angebot komme, ein Job, bei dem ich helfen und mich und andere entwickeln kann, dann mache ich mir Gedanken."
Bis dahin konzentriere er sich voll und ganz auf die Familie. "Als Profi habe ich immerhin auch viel verpasst", so Voronin, für den darüber hinaus sein nächster Besuch in Mainz Priorität genießt, um endlich das gar nicht mehr so "neue Stadion" zu erleben. "Es wird Zeit“" gibt er zu, bevor er losmuss. Sein Jüngster ist abfahrbereit, das nächste Training ruft.