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Verein 20.10.2022 - 15:10 Uhr

Keyhanfar: "Niemand darf die Augen verschließen"

Der in Mainz geborene Co-Trainer des FSV mit iranischen Wurzeln im Interview über die Situation im Heimatland seiner Eltern

Seine Eltern verließen den Iran 1979 in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland. Sechs Jahre später kam Babak Keyhanfar in Mainz zur Welt, wuchs hier auf und machte sich als Fußballer und heutiger Co-Trainer des 1. FSV Mainz 05 einen Namen. Seine Wurzeln hat er nie vergessen, wenngleich sein letzter Besuch in der Heimat seiner Eltern mittlerweile 25 Jahre zurückliegt. Die dramatische Entwicklung der vergangenen Wochen lassen auch Keyhanfar nicht kalt, der seit dem Tod von Mahsa Amini in Polizei-Gewahrsam und den anhaltenden Protesten im Land auf seinem Instagram-Account regelmäßig Position bezieht und die Geschehnisse verurteilt.

Im Interview spricht der 37-Jährige über seine Beweggründe, seine Hoffnung, die Missstände in der islamischen Republik, seine Beziehung zu Sardar Azmoun, Profi bei Bayer 04 Leverkusen, sowie über die Macht des Fußballs.

Babak, das Profilbild auf deinem Instagram-Account, über den du mehr als 8.000 Menschen erreichst, ist schwarz. Zudem teilst du regelmäßig Berichte oder Bilder aus dem Iran. Weshalb hast du dich für diesen Weg entschieden?

Keyhanfar: "Als Mensch, aber nicht zuletzt als Sohn iranischer Eltern, berühren und bestürzen mich die Geschehnisse im Iran zutiefst. Ich habe iranische Wurzeln, insofern fühle ich mich betroffen, auch emotional. Wichtig ist mir aber auch, zu sagen: Ich bin dort nicht aufgewachsen, habe dort nicht gelebt. Es ist das Land meiner Eltern, deswegen betrachte ich mich nicht als unmittelbar Betroffenen, möchte aber auf die Problematik, die nicht erst seit Kurzem besteht, so gut ich kann aufmerksam machen und Informationen teilen. Ich möchte so als Sportler einen Teil dazu beitragen, die Realität widerzuspiegeln und mich so angemessen und authentisch wie möglich äußern."

Auslöser der anhaltenden Proteste im Iran war der mutmaßlich durch Polizeigewalt verursachte Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini, die verhaftet worden war, weil sie keinen Hijab, das traditionelle islamische Kopftuch, trug. Was ist im Anschluss passiert?

Keyhanfar: "Was mit Mahsa Amini geschehen ist, hat das Fass letztendlich zum Überlaufen gebracht. Sie steht jetzt als Symbol für viele ermordete, verschleppte oder eingesperrte Menschen. Letztendlich hat ihr tragischer Tod eine Wut freigesetzt, die sich innerhalb großer Teile der Bevölkerung über Jahrzehnte angestaut hat."

Inwiefern?

Keyhanfar: "Die innenpolitischen Probleme gab es schon lange zuvor. Werte wie Freiheit, Gleichberechtigung oder Toleranz, für die auch mein Verein Mainz 05 steht, werden im Iran missachtet. Das größte Problem ist aber, dass die Menschen nicht auf die Straße gehen konnten, ohne harte Sanktionen zu fürchten. Die Bürgerinnen und Bürger konnten nicht demonstrieren, sondern mussten alles hinnehmen, was von der Politik vorgeschrieben wurde. Frühere Proteste, beispielsweise durch die Arbeiter- oder Studentenbewegung, wurden gewaltsam niedergeschlagen. Hinzu kommt die Perspektivlosigkeit für Kinder und Jugendliche, was Arbeitsplätze und Bildung angeht. Sie gehen derzeit genauso auf die Straßen und sind nicht länger bereit, die Situation zu akzeptieren. Sie haben über Jahrzehnte erlebt, wie ihre Mütter, ihrer Väter, ihre Geschwister und Freunde unterdrückt wurden. Die aktuelle Lage ist die logische Konsequenz der Entwicklung über einen sehr langen Zeitraum. Und die aktuelle Bewegung, angeführt von mutigen Frauen, ist die, die bislang am längsten Bestand hat. Auch, weil durch den Westen sehr viel darauf aufmerksam gemacht wird, durch viele prominente Gesichter, die ihre Solidarität ausdrücken. Die Iranerinnen und Iraner sind lebensfrohe Menschen, wollen Freude am Leben haben, selbstbestimmt und offen sein. Dieses Bild wird jetzt zum ersten Mal richtig in die Welt transportiert. Das ermutigt die Menschen im Iran, unter Einsatz ihrer Freiheit oder sogar ihres Lebens weiter auf die Straßen zu gehen. Sie spüren, dass ihre Stimmen gehört werden, weil die Situation erstmals auch auf globaler Ebene emotionalisiert. Das verleiht Kraft, auch weil sich die Bewegung aus allen Gruppen der Bevölkerung, inklusive der Minderheiten wie den Kurden, zu denen auch Mahsa Amini gehörte, zusammensetzt. Die Regierung wird von einem ganz kleinen Teil der Bevölkerung gebildet und von einem weiteren kleinen Teil unterstützt. Die Voraussetzung für Veränderung ist, dass der große Teil mutig und stark bleibt. Wir alle können aus meiner Sicht einen kleinen Teil dazu beitragen."

Hast du den Iran selbst besucht und Erfahrungen sammeln können?

Keyhanfar: "Ich war als Kind einige Male im Land, zuletzt vor 25 Jahren in den Sommerferien für mehrere Wochen. Alles über die Zustände habe ich aber über meine Eltern erfahren, die das Land 1979 mit Mitte 20 verlassen haben."

20.10.2022

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Dich verbindet eine Freundschaft zum iranischen Nationalspieler Sardar Azmoun, der seit Januar für Bayer Leverkusen aufläuft und im Iran geboren und aufgewachsen ist. Woher kennt ihr euch?

Keyhanfar: "Sein Management hat damals Kontakt zu mir aufgenommen, als sein Wechsel von Zenit St. Petersburg nach Leverkusen kurz bevorstand. Warum? Weil ich der Einzige mit iranischem Migrationshintergrund in der Liga bin. Es ging darum, eine Verbindung herzustellen, um den Austausch von Erfahrungswerten. So haben wir uns kennen- und schätzen gelernt."

Azmoun hat jüngst mehrfach eine klare Haltung eingenommen und Position für die Protestierenden bezogen…

Keyhanfar: "Er ist ein toller, mutiger junger Mann, der für Werte steht und eine Meinung hat, die er unabhängig von Ängsten äußert. Das ist im Fußball nicht selbstverständlich. Er hat sich als einer der Ersten prominenten Gesichter sehr klar positioniert und auf die Missstände aufmerksam gemacht. Dass seine Karriere in der Nationalmannschaft auf dem Spiel stehen könnte, für die er in 65 Spielen 41 Tore erzielt hat und eine tragende Säule ist, zumal eine WM vor der Tür steht. Dennoch war er so mutig zu sagen, dass Menschlichkeit vorgeht und er sich äußern muss. Ich habe allergrößten Respekt vor seinem Verhalten. Moral steht für ihn an erster Stelle, alles andere kommt danach. Er oder auch Negah Amiri, um nur zwei Beispiele zu nennen, sind Menschen, die noch viel authentischer als ich auf die Probleme aufmerksam machen können."

Amiri ist eine Stand-up-Comedienne, die im Iran aufgewachsen ist.

Keyhanfar: "Genau. Ich war am vergangenen Wochenende bei einem ihrer Auftritte. Sie ist als Jugendliche mit ihrer Mutter nach Deutschland gekommen und hiergeblieben. Sie wollte immer wieder zurück, weil man sich vorstellen kann, wie schwer es ist, als Jugendliche aus dem sozialen Umfeld herausgerissen zu werden. Von Freunden, von der Schule getrennt zu werden. Ihre Mutter hat immer wieder gesagt, dass sie es irgendwann verstehen würde. Sie hat es nach ihrem Auftritt am Samstag sehr emotional dargestellt, was sie davon hat, in Deutschland zu leben. Dass sie ihre Mutter jetzt verstehen kann, weil sie kommen gesehen hat, dass ihre Tochter im Iran nicht frei würde leben können. Solche Menschen können viel besser darüber reden als ich. Ich bin hier super aufgewachsen, habe immer alles gehabt, was ich brauche. Von meinen Eltern habe ich viele Erfahrungsberichte gehört, aber die Situation vor Ort, glücklicherweise, nie erleben müssen. Unzähligen Menschen ist in den vergangenen Jahrzehnten die Heimat, teilweise für immer, genommen worden. Weil sie nicht frei, nicht sicher, nicht selbstbestimmt leben konnten. Das liegt für viele Menschen außerhalb jeglicher Vorstellungskraft."

Auch mit Mehdi Madavikia, in Deutschland vor allem aus seiner Zeit beim Hamburger SV bekannt, hast du dich ausgetauscht.

Keyhanfar: "Das stimmt. Wir kennen uns seit einiger Zeit. Er hat lange in der Bundesliga gespielt, ist aber im Iran geboren und aufgewachsen. Zudem war er bis kurz vor Beginn der Proteste U21-Nationaltrainer. Insofern war es mir sehr wichtig, etwas über seine Erfahrungen vor Ort zu hören. Das ist auch für meine persönliche Meinungsbildung ein entscheidender Faktor."

Azmoun, Madavikia und du seid drei Beispiele von Fußballern, die die Proteste unterstützen: Welchen Einfluss kann der Sport aus deiner Sicht ausüben auf die Machthabenden?

Keyhanfar: "Sichtbarkeit steht ganz klar an erster Stelle, über die Situation zu informieren und zu berichten. Meine Rolle darf man nicht überbewerten. Ich bin kein Weltstar und kein Politiker, der irgendwelche Statements abgeben muss. Ein gutes Beispiel für die Macht des Fußballs ist aber das Vorgehen der FIFA im Land. Sie hat etwas für uns hier in Deutschland Selbstverständliches ermöglicht, was in den letzten über 40 Jahren in der islamischen Republik nicht erlaubt war. Mit angedrohten Sanktionen wie einem WM-Ausschluss und Richtlinien ist es gelungen, dass Frauen jetzt Fußballspiele besuchen dürfen. Die FIFA hat zudem vorgegeben, dass der Iran eine Frauen-Nationalmannschaft haben muss. Dadurch hat der Fußball das Recht der Frauen gestärkt. Es ist nur ein kleiner Schritt von vielen notwendigen, zeigt aber die Macht des Fußballs. Wir arbeiten in einer Branche mit vielen Millionen von Followern. Das ist ein Beispiel dafür, dass Veränderungen möglich sind. Niemand darf die Augen verschließen."