Profis 04.05.2022 - 19:00 Uhr
Balogun: "Es liegt etwas in der Luft"
Vor dem Europa-League-Halbfinal-Rückspiel gegen Leipzig haben die Glasgow Rangers einen Schicksalsschlag zu verkraften: Der Ex-05-Profi Leon Balogun schildert die Gefühlslage nach dem plötzlichen Verlust des Zeugwarts, die Anforderungen an einen echten Ranger und erinnert sich an die Zeit bei Mainz 05, seinen "Herzensverein" in der Bundesliga.
Zwei Tage vor einem seiner Karriere-Highlights – nach einem 0:1 im Hinspiel in Leipzig empfangen die Rangers den Bundesligisten am Donnerstagabend im legendären Ibrox Park - erreichen wir einen nachdenklichen, traurigen Leon Balogun. Ein "Kribbeln" spüre derzeit niemand bei den Rangers, gibt der Ex-05-Profi im Gespräch am Dienstagnachmittag zu. Eine Klub-Legende ist soeben völlig überraschend verstorben und hinterlässt eine riesige Lücke beim Traditionsverein. Jimmy Bell, viel mehr als ein Zeugwart, wie Balogun betont. "Von ihm habe ich erfahren, was es bedeutet und erfordert, für diesen Klub zu spielen." Der Verstorbene habe das repräsentiert, was die Rangers ausmache, die "Familie", wie der Innenverteidiger, der zwischen 2015 und 2018 58 Pflichtspiele für die 05ER absolvierte, es nennt.
Das 1:1-Unentschieden im sogenannten Old Firm, einem der traditionsreichsten Derbies des Weltfußballs am Sonntagnachmittag, hatte der 69-jährige Bell mit seinen Rangers noch hautnah miterleben dürfen, bevor die Meldung über seinen völlig überraschenden Tod den Verein aus Glasgow am Dienstagvormittag in seinen Grundfesten erschütterte. An Fußball, geschweige denn das Europa-League-Halbfinale, war zunächst nicht zu denken, wie Balogun betont. "Ein Kribbeln hat hier heute niemand verspürt nach dieser Nachricht, das Spiel hat niemanden groß interessiert. Jimmy hat all das verkörpert, was diesen Klub ausmacht. Wenn du in seinen Arbeitsraum gekommen bist, konntest du Geschichte atmen und spüren. Er konnte dir alles über den Klub und seine größten Legenden erzählen. Indirekt hat er dir immer mit auf den Weg gegeben, was der Maßstab ist, ein echter Ranger zu sein."
Was das konkret bedeutet, fasst der 33-Jährige, seit Sommer 2020 in Diensten der Schotten, wie folgt zusammen: "Verlieren ist keine Option, ganz einfach. Du hast dir den A… aufzureißen und, wenn du das Trikot oder die Trainingsklamotten anziehst, hast du die beste Version deiner selbst zu sein. Du musst nicht perfekt sein, aber zeigen, dass du es willst. Dass du für jeden im und um den Klub alles gibst, um zu gewinnen. Dass du würdevoll auftrittst, nie aufgibst und keine Angst hast. Hart arbeiten, sich den Erfolg, und letztendlich auch verdienen, das Trikot überziehen zu dürfen." Die Lücke, die Bell, der über drei Jahrzehnte in Diensten des Klubs stand, nun hinterlässt, wird kaum zu füllen sein. Ganze Spielergenerationen habe dieser geprägt, unterstreicht der Ex-05ER
Schweigeminute vor dem Halbfinale
Ein Anruf von Steven Gerrard als Glücksfall
Und auch Balogun hat es sich, nicht zuletzt dank Bells Hilfestellung, inzwischen verdient, wird von den Fans ob seines Siegeswillens als Fighter geschätzt. Den Wechsel zu den Rangers betrachtet er als Glücksfall, nachdem er zuvor anderthalb komplizierte Jahre bei Brighton & Hove Albion in der Premier League sowie Wigan Athletic in der zweitklassigen Championship erlebt hatte. Zu verdanken hat er diese Chance keinem Geringeren als dem früheren Weltklasse-Mittelfeldspieler Steven Gerrard, der sich vor knapp zwei Jahren in seiner Funktion als Chefcoach bei Balogun meldete und ihm zu verstehen gegeben habe: 'Ich will dich haben, du bist mein Mann für die Mission 55' - die langersehnte 55. Meisterschaft, die die Rangers im vergangenen Sommer dann auch tatsächlich feiern und so die ganze neun Jahre andauernde Meister-Serie des Erzrivalen Celtic brechen konnten. Dank dem Ex-Mainzer und eben Gerrard - laut Balogun eine in allen Belangen beeindruckende Persönlichkeit: "Er hat mir unfassbares Selbstvertrauen vermittelt und das Gefühl, dass ich ein Gewinner bin. Was ihn ausgemacht hat, war aus meiner Sicht unter anderem die Art und Weise, wie er mit uns Spielern umgegangen ist. Man hatte manchmal das Gefühl, er sei einer der älteren Profis, der auf und neben dem Platz vorangeht. Es gab eine gewisse Nähe, man hat sich wohl gefühlt mit dem gesamten Trainerteam. Zudem ist man auch mal in den Genuss gekommen, dass er mitgespielt hat, wenn es Bedarf gab im Training. Seine Qualität am Ball ist immer noch unglaublich", schwärmt der gebürtige Berliner.
Reichlich "Mist" & "Schadenfreude"
Zwar hat sich Gerrard mittlerweile zu Aston Villa in die Premier League verabschiedet, mit seinem Wirken aber dennoch die Weichen gestellt für die weitere sportliche Wiederauferstehung der Rangers, die 2012 einen erschütternden Zwangsabstieg in die vierte Liga hatten verkraften müssen und erst seit 2016 wieder Mitglied der höchsten schottischen Spielklasse sind. "Die Rangers haben sich in den letzten Jahren viel Mist anhören müssen, viel Schadenfreude, gerade von Seiten Celtic, ertragen müssen." Insofern seien die jüngsten Erfolge durchaus Genugtuung und hätten noch mehr Euphorie ausgelöst in den Reihen der begeisterungsfähigen Anhänger, die zuletzt so viel hatten leiden müssen. "Der Stolz ist so groß, die Fans hier sind einfach bereit, und das ist keine Floskel, ihr letztes Hemd für den Klub zu geben", zeigt sich Balogun beeindruckt. Und fühlt sich mittlerweile mehr als heimisch in Glasgow: "Ich fühle mich in dem Verein unfassbar wohl, habe ein gutes Verhältnis zu den Fans und habe wirklich noch nie so viel Zeit auf einem Vereinsgelände verbracht. Ich bin einfach gerne hier, täglich. Ich lebe den Klub. Man hat ein sehr enges Verhältnis zu Allen, die rund um die Mannschaft arbeiten. Letztendlich denke ich, dass auch meine Art Fußball zu spielen, hierher passt."
Und so ist der nigerianische Nationalspieler stolz und glücklich, im "fortgeschrittenen Fußballeralter", noch einmal derartiges erleben zu dürfen und hofft auf eine Verlängerung seines im Sommer auslaufenden Kontrakts. "Ich bin so selbstbewusst zu sagen, dass ich mich topfit fühle und noch einige Jahre kicken kann." Ob bei den Rangers oder andernorts dürften die kommenden Wochen zeigen.
Sevilla-Tickets bereits gebucht
Kurzfristig jedoch geht es darum, den Fokus rechtzeitig auf das Halbfinal-Duell mit den Leipzigern zu legen und die sich bietende Chance im ausverkauften Ibrox Park zu ergreifen, findet auch Balogun: "Es liegt etwas in der Luft, alle träumen. Jeder hat im Kopf, wie geil das wäre, wenn wir ins Finale kommen. Man wird teilweise in der Stadt angesprochen, und die Leute erzählen dir, dass sie ihr Sevilla-Ticket schon gebucht haben." Und dann ist da ja auch noch der "zusätzliche Ansporn", dem es naturgemäß gar nicht erst bedurft hätte. "Emotional ist es nun ganz klar nochmal eine andere Motivation. Wenn wir es packen, wäre es das Beste, was wir für Jimmy's Andenken tun können. Es mag verrückt klingen, wenn man kein Teil der Rangers-Familie ist: Aber ich würde sagen, dass es niemanden gibt, der Spiele für diesen Klub so sehr gewinnen wollte, wie dieser Mann. Das werden wir im Hinterkopf haben, wenn wir das Stadion betreten."
Leon, der 05ER
Unvergessene Mainzer Jahre
Die Daumen drücken werden Balogun und den Rangers dabei am Donnerstag ab 21 Uhr sicher auch viele Mainzer, denen sich der Profi nach wie vor eng verbunden fühlt, wie er erklärt: "Ich kann guten Gewissens sagen, dass Mainz 05 in der Bundesliga mein Herzensverein ist. Ich hatte davor auch in Darmstadt oder Düsseldorf eine gute Zeit. Aber, wenn ich alles zusammennehme, habe ich in Mainz am meisten gespielt und erlebt: Die Euro-League-Quali im ersten Jahr, große Siege gegen Bayern München, Bayer Leverkusen, Schalke oder Mönchengladbach. Ich habe ein paar echt gute Freundschaften geknüpft mit Karim, Danny, Brosi oder Julian Baumgartlinger. Und dann gibt es mit Walter Notter die gute Seele des Vereins", so Balogun, der davon berichtet, erst kürzlich Kontakt nach Rheinhessen gehabt zu haben. "Nach einem Spiel hat der Karim mich per Facetime aus der Kabine angerufen und auch Walter kam dazu. Ohne solche Leute läuft einfach nichts, das ist total wichtig für einen Verein. Ich habe mich immer zuhause gefühlt und Mainz 05 als sehr familiären und speziellen Klub in Erinnerung. Das hast du in Deutschland in wenigen Vereinen. Viele sprechen davon, in Mainz ist es wirklich so", schwärmt er rückblickend. "Was mir außerdem nicht aus dem Kopf geht, ist die Tormelodie (Anm. d. Red.: Narrhalla Marsch). Leider habe ich sie nur einmal ertönen lassen können, und das Spiel gegen Köln haben wir damals dann trotz einer 2:0-Führung noch verloren", erinnert er sich und blickt dennoch gerne zurück an seine Auftritte vor dem Mainzer Publikum.
Zwei Tage nach seinem persönlichen europäischen Highlight auf der Insel werden seine Gefühle dann allerdings zwiegespalten sein, wenn der FSV am Samstagabend (18.30 Uhr) bei Hertha BSC antritt. "Bo macht mit der Mannschaft aktuell einen herausragenden Job. Dennoch hoffe ich als Berliner natürlich, dass der Klub aus meiner Heimatstadt erfolgreich ist. Ein Remis würde ich insofern nehmen, weil es für die Hertha im Abstiegskampf wichtig wäre."
Deutlich emotionaler als im Olympiastadion wird es in dieser Woche aber zweifelsohne am Donnerstagabend in Schottland zugehen, wenn der berüchtigte "Ibrox Roar" (Balogun: " Wahnsinn, das auf dem Rasen zu erleben") die Ränge des Glasgower Stadions erbeben lässt. Unter für die Rangers nach den vergangenen Tagen sehr besonderen, außergewöhnlichen Vorzeichen.