Profis 05.04.2020 - 19:05 Uhr
18 Jahre Mainz-05-Gefühl
Jürgen Klopps Entwicklung von Zweitligafußballer zu Aufstiegstrainer und 05-Legende
Mainz bleibt zu Hause. Die fußballfreie Zeit bietet Gelegenheit, mal wieder an wichtige und emotionale Ereignisse und Entwicklungen, aber auch an bedeutsame Gesichter der Klub-Vergangenheit zu erinnern. Zum Beispiel an Jürgen Klopp, der als Spieler und Trainer den 1. FSV Mainz 05 nachhaltig prägte, zur Vereins-Legende aufstieg und den Klub nach zwei dramatischen Fehlversuchen erstmals in die Bundesliga führte.
Alles begann mit den beiden Begegnungen mit Rot-Weiß Frankfurt Anfang Juni 1990, als die 05ER den Frankfurter Oberligisten innerhalb von zwei Tagen in der Aufstiegsrunde zur Zweiten Bundesliga zweimal besiegten und damit den Wiederaufstieg klarmachten. Bei den Frankfurter rot-weißen spielte im Angriff ein gewisser Jürgen Klopp. Der stand auf der Wunschliste des Mainzer Trainers Robert Jung. "Ich brauche einen großen Stürmer", hatte dieser der Mainzer Rhein-Zeitung verraten. Klopp gestand später ein, dass er in beiden Spielen schlecht gewesen sei, aber weil er das von Jung gesuchte Gardemaß von 1,90 Metern hatte, erhielt der gebürtige Schwabe kurz nach seinem 23. Geburtstag einen Profivertrag am Bruchweg. Der Beginn einer Ära, die 18 Jahre lang andauern sollte.
Heidels Eingebung an Rosenmontag
In Interviews flirtet der Trainer des FC Liverpool heute noch gerne mit seiner "Limitiertheit" als Fußballer. Gemessen an aktuellen Maßstäben, war "Kloppo" wie er in Mainz von Anfang genannt wurde, am Ball tatsächlich nicht sonderlich gut. Doch er entwickelte Tugenden, die ihn zu einem guten und überdurchschnittlichen Zweitligakicker dieser Zeit machten: Seine Physis, die Schnelligkeit und eine große Ausdauer. Sein unbändiger Willen, der ihn zu einem Antreiber machte, der auch in den schwierigsten Situationen voranging. Dazu verfügte er über einen vernünftigen Schuss und gutes Kopfballspiel.
Seine Trainerkarriere begann damit, dass an jenem Rosenmontag 2001 Manager Christian Heidel zu Hause eine Eingebung hatte. Am Tag zuvor hatte der Klub mal wieder in Fürth sang- und klanglos mit 1:3 verloren und war auf den vorletzten Tabellenplatz abgerutscht. Nach dem zweiten Abgang von Wolfgang Frank waren alle Nachfolger gescheitert. Nun auch der aktuelle Coach Eckard Krautzun.
Heidel analysierte, dass sein Team nur mit Franks etablierten 4-4-2, mit Raumdeckung und Viererkette Erfolg gehabt hatte. Und wenn der Markt keinen willigen, bezahlbaren 4-4-2-Expertren hergebe, dann, so kam es Heidel in den Sinn, mussten es die Spieler diesmal selbst regeln. "Ein Führungsspieler, einer, der die Frank-Lektionen auf der Festplatte hat. Der intelligent ist, anerkannt, rhetorisch begabt, der bei der neuen Aufgabe aber auch nicht auf dem Rasen fehlte", heißt es im Buch "Karneval am Bruchweg".
Höhen, Tiefen & Leidenschaft
Da gab es nur eine Wahl. Heidel rief Klopp im Kurztrainingslager-Hotel in Bad Kreuznach an. Der Verteidiger zögerte keinen Moment. "Das mach ich", sagte der damals 33-Jährige. Am Fastnachtsdienstag absolvierte der studierte Sportlehrer seine erste Einheit als 05-Trainer. "Ich hatte zwar kein Gefühl für die Abstände, aber ich hatte einen Plan. Ich wusste, was wir machen müssen." 4-4-2-Training, taktisches Laufen, Verschieben. "Die Jungs, die noch da waren aus der Ära Frank, die hatte ich auf meiner Seite. Meine erste Ansprache war ganz an Wolfgang Frank orientiert, an den beiden Sitzungen, die er abgehalten hatte, als er nach Mainz gekommen ist. Der Ansatz war wieder, gegnerunabhängig zu spielen, und es ging um die entscheidenden fünf Prozent. Jeder Spieler, habe ich gesagt, ist bereit, 95 Prozent zu investieren, aber es sind die letzten fünf Prozent, die den Unterschied machen. Das war der Aufhänger in meiner allerersten Ansprache", erzählte Klopp Jahre später in einem FAZ-Interview.
Mutiger als der Lehrmeister
Am Aschermittwoch schlug seine Mannschaft den MSV Duisburg durch ein legendäres Tor von Christoph Babatz 1:0, danach den Chemnitzer FC 3:1 und Heidel verkündete: "Für uns gibt es den Spieler Jürgen Klopp nicht mehr." Der Trainer Klopp blieb sieben Jahre, die aus Mainz 05 einen Verein machten, dem in Deutschland plötzlich die Sympathien zuflogen, der einen neuen Bekanntheitsgrad erreichte und dafür sorgte, dass die Fans am Bruchweg in Zelten und auf Matten übernachteten, um an Eintrittskarten für die 05-Spiele zu gelangen, wenn am Morgen der Vorverkauf startete.
Taktisch lebte Klopp (unterstützt vom genialen Co-Trainer Zejlko Buvac) in seiner Anfangsphase als Trainer von Franks Lehrstunden. "Doch der Schüler war von Anfang an mutiger, innovativer, gewährte den Spielern mehr Freiheiten innerhalb der strengen 4-4-2-Ordnung", heißt es in "Karneval am Bruchweg" weiter. Bei Frank waren für jeden Spieler Zonen und Laufwege eingeteilt, die sklavisch eingehalten werden musste. Das ergab eine Defensivsicherheit, doch der Ansatz blieb offensiv statisch. Klopps Team wirkte dagegen gleich lebendiger, freier, flexibler und offensiver. Klopp verstand die geordnete, aggressive Defensivarbeit als Basis für Balleroberungen, um möglichst zügig und oft in eigene Angriffssituationen zu kommen mit offensivorientierten Spielern.
Die Mannschaft, als Abstiegskandidat in die neue Zweitligasaison gestartet, stürmte mit einer nie dagewesenen und nie wieder erlebten Wucht durch die Liga. Alles sah nach Aufstieg aus. Nach zwei vergebenen Matchballen kam‘s zum Showdown bei Union Berlin. Jeder, der damals dabei war im Stadion in Köpenick oder vor dem Mainzer Staatstheater, wo 20.000 Menschen vor einer Großleinwand litten, wird das nie vergessen. Die gedemütigten 05ER registrierten nach diesem Drama jedoch verblüfft die überwältigenden Fan-Reaktionen zu Hause, wo der "Aufsteiger der Herzen" emotional empfangen und gefeiert wurde.
Klopp verkündete emotional einen neuen Angriff und hielt sein Versprechen. Ein Jahr später gibt es erneut ein Aufstiegsendspiel. Allerdings auch parallel dazu in Frankfurt. Die Eintracht war Tabellendritter und spielte zu Hause gegen Reutlingen. Die punktgleichen 05er (59 Zähler) als Vierter mussten nach Braunschweig. Beide mussten gewinnen, das Torverhältnis entschied. Am Ende triumphierte die Eintracht, weil ausgerechnet Klopps Freund aus Rot-Weiß- Zeiten, Alex Schur, noch das Tor zum 6:3 gelang.
Klopp schwang sich nach der Rückkehr zu jener unvergessenen Rede auf, die das Mainz-05-Gefühl zum Fundament kommender Jahre werden ließ: "Sagt mir bitte eine Stadt, sagt mir eine Mannschaft, sagt mir irgendwelche Fans auf der Welt, die in der Lage wären, nach so einem Schmerz, wie wir es letztes Jahr hatten, so eine Saison zu spielen wie die letzte, nach so einem Schmerz wie wir ihn gestern hatten, so eine Saison zu spielen wie die nächste. Es gibt keinen anderen Verein außer Mainz 05. Wir und unsere Fans, das ist die ehrlichste Art des Zusammenseins." Klopp traf damit die Seele der Menschen, entfachte in der tiefsten Enttäuschung Begeisterung und Hoffnung, gab damit das Aufbruchssignal für den im dritten Anlauf vollzogenen Aufstieg und erfolgreiche Bundesligajahre.