Profis 05.04.2020 - 10:30 Uhr

Raumdeckung als Offenbarung

Wolfgang Frank führt im Winter 1995/96 die Viererkette ein bei Mainz 05 und wird zum Vorbild einer Trainergeneration

Prägendes Gesicht in der Entwicklung des FSV: Wolfgang Frank im August 1998. (© imago images / Alfred Harder)

Mainz bleibt zu Hause. Die Corona-Krise bietet uns die Zeit, mal wieder an wichtige und emotionale Ereignisse aus der Klub-Vergangenheit zu erinnern. Zum Beispiel an Wolfgang Frank, jenen Trainer, der in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den 1. FSV Mainz 05 prägte, wie kaum ein anderer. Der zum Initiator aller folgenden Erfolge wurde, zum Vorbild einer neuen Trainergeneration. Frank verstarb am 7. September 2013 im Alter von 62 Jahren in Mainz an einem Krebsleiden.

Als der damals 44-Jährige am 25. September 1995 seinen Dienst am Bruchweg antrat, begann eine Ära, in der Frank zu der bis dahin größten Trainer-Entdeckung des noch jungen 05-Managers Christian Heidel avancierte. Den neuen Coach kannte man zu dieser Zeit eher noch als Torjäger, der in 215 Bundesligaspielen 89 Treffer (überwiegend für Eintracht Braunschweig und Borussia Dortmund) erzielt hatte. Seine Vita als Trainer war unspektakulär: Glarus, Aarau, Wettingen, Winterthur in der Schweiz und Rot-Weiß Essen. Frank übernahm einen Tabellenletzten der Zweiten Liga, der in der Saison zuvor knapp drin geblieben war, der in den ersten acht Spielen der neuen Runde kein Tor geschossen und sich von Trainer Horst Franz getrennt hatte.

Bis zur Winterpause blieben die 05ER Tabellenletzter, dann krempelte der harte Arbeiter den Klub regelrecht um. Mit dem Ergebnis, dass Mainz 05 den größten Abstiegskampf aller Zeiten erfolgreich bestritt, als Rückrundenmeister Unfassbares vollbrachte, im gesamten Jahr 1996 nur fünf Spiele verlor und saisonübergreifend 57 Punkte hamsterte.

Aus für Libero und Manndecker

Die größte Veränderung nahm der neue 05-Trainer in der Winterpause vor. Frank verabschiedete das alte Spielsystem und führte die Raumdeckung ein in einer 4-4-2-Grundordnung mit Forechecking, Pressing und aggressivem Umschaltfußball, wie man heute sagen würde. Zuvor hatten die 05ER wie allgemein üblich mit einem Libero gespielt, der je nach Situation als Ausputzer fungierte oder den Spielaufbau organisiert hatte. Unterstützt von zwei Manndeckern, die ihre Gegenspieler übernahmen und übergaben. Frank installierte stattdessen eine hintere Viererkette auf einer Linie, die ballorientiert verschob und verteidigte.

Wolfgang Frank & Jürgen Klopp im Jahr 2007: Ersterer hatte seinen späteren Nachfolger zum "Viererketten-Jünger gemacht, ließ sicher dieser einst zitieren. (©imago images / Jan Huebner)

Erstmals praktiziert wurde das Ganze in einem Testspiel beim 1. FC Saarbrücken, das die Mainzer mit 6:0 gewannen. "Seit diesem Tag waren wir Viererketten-Jünger", sagte Jürgen Klopp später einmal. Frank, der Sport und Religion auf Lehramt studiert hatte, war die Viererkette in der taktisch fortschrittlicheren Schweiz begegnet. Der Coach erkannte die Möglichkeiten, beschäftigte sich näher mit der Lehre von Arrigo Sacchi, dem Erfolgscoach des AC Mailand, übernahm die Prinzipien und war in Deutschland der erste, der das System durchgängig spielen ließ.

Das Ganze wurde dann permanent und so lange trainiert, bis jeder das Prinzip verstanden hatte. Mittels taktischem Laufen: sprich, alle Positionen der eigenen und gegnerischen Formation besetzen. Dann wird der Ball irgendwo ins Spiel gebracht und alle setzen sich in Bewegung. Verschieben zum Ball hin, je nach Situation. Immer und immer wieder. In Trainingslagern geübt bis zum Gehtnichtmehr. Das Ganze war angelegt als Verteidigungs-Strategie, um den Gegner vom eigenen Strafraum weg zu halten. In der "Wundersaison“ 95/96" entstand so ein Erfolgsrezept.

"Es war unglaublich", erzählte Klopp später in einem Interview mit der FAZ. "Frank hat uns die Laufwege eingehämmert. Für mich war das eine Offenbarung. Es war über Nacht ein völlig anderer Ansatz da: Wir wussten jetzt, dass wir mit diesem System Spiele gewinnen konnten gegen Mannschaften, die besser waren als wir."

Kampf für Infrastruktur

Der Klassenverbleib gelang in beeindruckender Art und Weise. Danach waren die 05ER ein Spitzenteam und in der Folgesaison erstmals auf dem Weg Richtung Bundesliga. Platz zwei nach der Vorrunde hinter dem 1. FC Kaiserslautern. Sportlich schien alles okay am Bruchweg, doch es kriselte in diesem Winter. Franks ständige Forderungen machten der Klubführung zu schaffen. Der Trainer predigte, das Stadion müsse modernisiert und ausgebaut werden. Sonst seien Erfolg und Vereinsidentität nicht möglich. Frank kämpfte für eine Sauna, ein Entmüdungsbecken, für eine bessere Infrastruktur. Der Klub führte auf Franks Initiative immer wieder kontroverse Verhandlungen mit der Stadt Mainz. Es kam zum Streit, als der Trainer den Vorstand kritisierte, weil ihm der von der Stadt beschlossene Bruchwegausbau zu mager ausfiel.

Nachrichten aus einer anderen Zeit

Die Profis trainierten unterdessen aufgrund des nicht enden wollenden arktischen Winters dreieinhalb Wochen lang auf Zypern. Ein Trainingslager, das bis heute niemand der Beteiligten vergessen hat. "Franks Credo war: Wer 90 Minuten Vollgas geben will, der muss auch zweieinhalb Stunden trainieren können. Das konnten wir", sagte Klopp rückblickend.

Sven Demandt, der Torjäger, hat andere Erinnerungen. "Unabhängig von den vielen Trainingseinheiten waren wir vom Kopf her leer. Franks Maxime war: man muss immer mehr machen. Irgendwann kann man aber nicht mehr mehr machen. Frank hat nie gesagt, ich lasse mal locker und ziehe dann wieder an. Wir sind von Zypern zurückgekommen und waren tot", beschrieb der Stürmer die Lage im Buch "Karneval am Bruchweg".

Zwei Pleiten gegen Hertha BSC und in Leipzig zum Auftakt der Rückrunde brachten dann den Paukenschlag. Frank warf die Brocken hin. Die 17-monatige Erfolgsgeschichte war zu Ende. "Ich hatte das Gefühl, dass unsere Vision immer mehr gestorben ist", sagte er der Mainzer Rhein-Zeitung. Ihm habe einfach die Philosophie, das glasklare Konzept, die Struktur gefehlt. Jahre später räumte er allerdings ein: "Ich war zu verbissen damals, fühlte mich allein verantwortlich für die ganze Sache."

Rückkehr im April 98

Aus dem Aufstieg in jener Saison ist bekanntlich nichts geworden. Reinhard Saftig, Franks Nachfolger, musste in der nachfolgenden Saison bereits nach vier Spielen wieder gehen. Auch Nachfolger Dietmar Constantini brachte die Saison nicht zu Ende. Anfang April 1998 saß dann Frank wieder auf der Trainerbank. Heidel hatte den Ex-Coach bei Austria Wien losgeeist. Drei Tage später, am Ostersonntag, begrüßten 1200 mit dem Sonderzug zu den Stuttgarter Kickers angereisten 05-Fans den Rückkehrer mit Messias-Rufen. Die Folge: Erfolgreicher Abstiegskampf und eine Saison auf Platz sieben. Eine weitere erfolgreiche Vorrunde bis knapp an die Aufstiegsplätze heran. Doch in der Rückrunde lief nicht mehr viel. Frank, der sich bereits frühzeitig mit dem MSV Duisburg für die nächste Spielzeit geeinigt hatte, wurde vom 05-Vorstand sieben Spiele vor dem Saisonende freigestellt.

Zum zweiten Mal gingen der Klub und sein Trainer getrennte Wege, diesmal endgültig. Doch der eigenwillige und streitbare Fußball-Denker hat Mainz 05 ein wertvolles Erbe hinterlassen und die Basis dafür gelegt, dass sich der Klub später in der Bundesliga etablieren konnte.