Nachwuchs 12.03.2021 - 17:00 Uhr
Kersting: "Für die Entwicklung leider ein verlorenes Jahr"
Der Leiter des Nachwuchsleistungszentrum der 05ER spricht im Interview über die vergangenen Monate und die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das NLZ
Vor einem Jahr herrschte Stillstand im Nachwuchsleistungszentrum des 1. FSV Mainz 05 am Bruchweg. Die Entwicklung der Corona-Pandemie sorgte im Frühjahr 2020, erstmals in seiner Geschichte, für eine komplette Schließung des NLZ. Volker Kersting, seit 30 Jahren in leitender Funktion im Nachwuchsbereich des FSV tätig, blickt zurück auf ein herausforderndes Jahr, dessen langfristige Folgen noch nicht absehbar sind: "Für die Spieler war es leider in ihrer sportlichen Entwicklung ein verlorenes Jahr, das muss man so deutlich sagen."
Im Interview spricht Kersting über die Auswirkungen dieser Ausnahmesituation, Erfahrungen aus dem vergangenen Monaten und eine mögliche Perspektive.
Hallo Volker, vor einem Jahr war kompletter Stillstand im NLZ. Wie ist damals die Entscheidung, das NLZ am 13. März 2020 zu schließen, in der ersten Welle der Corona-Pandemie zustande gekommen?
Kersting: "Nachdem sich die Zahlen und Prognosen entsprechend entwickelt hatten, wir gerade im Umgang mit Kindern, Jugendlichen und unseren Mitarbeitern Vorsicht walten lassen müssen und von wissenschaftlicher Seite gewarnt wurde, haben wir beschlossen, erst einmal auf Nummer sicher zu gehen. Wir sind in den Lockdown gegangen und haben das Tagesgeschäft runtergefahren. Wir standen damals vor einer komplett neuen Herausforderung, die alle Mitarbeiter hart getroffen hat, weil wir auf sowas, wie alle in Deutschland, in keiner Weise vorbereitet waren."
Musstest du diese Ausnahmesituation auch erstmal sacken lassen oder warst du als Krisenmanager direkt wieder im Arbeitsmodus?
Kersting: "Es ging direkt weiter, die Tage wurden noch länger, als sie ohnehin schon waren. Zum einen ging es darum, die Voraussetzungen für unsere Mitarbeiter zu schaffen und zum anderen unseren über 200 Nachwuchsspielern Rahmenbedingungen zu bieten, in denen sie sich weiterentwickeln können. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht, in welche Richtung sich das Ganze entwickelt, wie lange wir schließen müssen und wie sich das auf das ganze Programm auswirkt. Deshalb mussten wir richtig Gas geben – das haben dann auch alle getan."
Es herrschte Unsicherheit, für die Spieler ist von einem auf den anderen Tag ein großer Teil ihres Alltags weggebrochen. Wie wurde versucht, diese mentale Komponente bei den Kindern und Jugendlichen aufzufangen?
Kersting: "Wir haben uns zusammen mit unseren Sportpsychologen Gedanken gemacht, wie wir die Jungs zusammen mit den Trainern zuhause bedienen können, welche Elemente wir nutzen können, mit denen man in Video-Calls, in Aufgabenstellungen und mentalen Trainingsformen arbeiten kann, um die Jungs bei der Stange zu halten. Wir waren froh, dass wir nach etwa drei Monaten aus der Geschichte wieder ein bisschen rauskamen und bei allen die Hoffnung entstanden ist, wieder in ein fast normales Tagesgeschäft mit Hygieneregelungen überzugehen. "
Hatten sich nach der langen Pause auch schon sportliche Auswirkungen bemerkbar gemacht oder ist das noch gar nicht absehbar und wird sich wohlmöglich erst langfristig zeigen?
Kersting: "In der Sommervorbereitung vor der laufenden Saison hat man das natürlich in den ersten Wochen schon gemerkt, weil den Jungs grundlegende Attribute fehlten. Man kann zwar versuchen, den Spielern athletische und konditionelle Elemente mitzugeben. Nichtsdestotrotz ist es aber immer etwas anderes, ob man losgelöst von einem Fußballspiel laufen geht, oder, ob man sich diese Kondition auf dem Platz holt und durch Spielbetrieb und Wettkampfmodus im Training permanent untermauert. Man hat dann einfach gemerkt, dass den Jungs diese Drucksituationen, trotz losgelöster technischer Übungen, gefehlt haben. Natürlich geht dann in den ersten Monaten vieles nicht so leicht vom Fuß, weil das Gefühl für Zeit und Raum auf dem Platz wieder entwickelt werden muss."
Im Sommer ist dann, wie du schon erwähnt hast, wieder etwas Normalität eingekehrt. Es wurden Hygienekonzepte entwickelt und teilweise auch wieder Zuschauer zugelassen. Wie hast du diese Zeit erlebt?
Kersting: "Wir mussten uns permanent mit neuen Voraussetzungen und Verordnungen des Landes und der Gesundheitsämter auseinandersetzen. Es war auch richtig und wichtig, dass die Maßnahmen ergriffen wurden. Wir hatten aber immer auch den Fokus darauf, im Sinne unserer Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen zu schauen, mit welchen Hygienekonzepten wir es schaffen, auf den Platz zurückzukehren, ohne innerhalb dieser Pandemie ein Risiko einzugehen. Uns ist es in Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien und den Gesundheits- und Ordnungsämtern der Stadt Mainz gelungen, immer wieder Konzepte zu entwickeln und der Pandemielage anzupassen, die komplett gegriffen haben. So können wir heute sagen, dass wir die richtigen Maßnahmen ergriffen haben. Auf dieser Basis konnten wir mit den Mannschaften von U15 bis U19 entsprechend weitertrainieren und mit den Teams von U9-U14 jetzt wieder ins Training einsteigen."
Die Konzepte haben sich also bewährt
Kersting: "Ja, alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben dabei einen super Job gemacht. Vor allem Marco Aumüller, der im Bereich Hygienekonzept als Verantwortlicher in der Bearbeitung diese Konzepte immer wieder erstellt und anpasst."
Mit Beginn der zweiten Welle fielen die Zuschauer dann wieder weg, im November gab es einen erneuten Lockdown. Wie war da die Gefühlslage?
Kersting: "Wir hatten da schon einiges an Erfahrung sammeln können. Trotzdem trifft das einen in der Arbeit und der Entwicklung der Jungs. Eigentlich hatten wir gehofft, auf lange Sicht wieder zur Normalität übergehen zu können. Der Lockdown hat uns dann aber nicht mehr so stark getroffen wie im März, als wir nicht vorbereitet waren, sondern wir hatten dann alle Konzepte stehen und konnten diese entsprechend schnell zusammen mit dem DFB und den Fußballverbänden bei den Ämtern hinterlegen. Dann durften zumindest die Mannschaften von U15 bis U23 nach einer kurzen Pause mit einer Sondergenehmigung weitertrainieren. Die U23 ist seit Dezember wieder im Spielbetrieb."
Diese Woche durften die Teams von U9 bis U14 das Training nach vier Monaten wieder aufnehmen. Wie äußern sich die Unterscheide zwischen den jüngeren Teams, die komplett auf das Teamtraining verzichten mussten und den älteren Mannschaften, die mit einer Sondergenehmigung trainieren durften?
Kersting: "Man merkt bei den Teams von U9 bis U14, dass den Jungs in ihrer fußballerischen Ausbildung ein halbes Jahr fehlt. Sowas ist schwer aufzuholen. Wir haben versucht, das mit losgelösten Übungen von zuhause aus, aufzufangen. Das geht aber nicht nur uns so, sondern allen Vereinen und Nachwuchsleistungszentren. Bei den älteren Teams bis zur U19 zeigt sich dieser Effekt zwar etwas reduzierter, aber auch da sieht man, dass die Jungs momentan noch Probleme haben, ein Gefühl für Raum und Zeit zu entwickeln und unter Druck Lösungen zu finden. Das wird auch noch Zeit brauchen."
War dieses Jahr eher ein verlorenes für die Spieler oder muss man das differenzierter betrachten?
Kersting: "Für die Jungs war es leider in ihrer sportlichen Entwicklung ein verlorenes Jahr, das muss man so deutlich sagen. Wir schauen jetzt, wie wir gemeinsam die Situation so für unsere Nachwuchsspieler zurechtbasteln, dass sie Entwicklungen aufholen und kompensieren können. Generell kann man aber aus allem Negativen auch wieder etwas Positives ziehen: zum Beispiel, die Erfahrungen, die wir gesammelt haben und auch der Zusammenhalt aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Spieler und Trainer in dieser Zeit."
Wie sieht nun die Perspektive aus deiner Sicht aus?
Kersting: "Natürlich haben wir alle die Hoffnung, auch wieder dahin zurückzukehren, wo wir einmal waren. Da denke ich positiv und gehe einfach mal davon aus, dass es so kommt. Wie die Langzeitwirkungen auf den Fußball und die Chancen der Jungs aussehen, in den Bereich, in den sie hinwollen, hinzukommen, ist aber noch nicht abzusehen."