Profis 07.04.2020 - 19:30 Uhr
"Quality time", ein neues Hobby & der Drang zurück auf den Platz
Als junger Familienvater hat Jeremiah St. Juste die Zeit im Homeoffice mit seiner Tochter genossen, was nichts an seinem Heißhunger ändert, gemeinsam mit den Teamkollegen wieder regelmäßig auf dem Rasen zu stehen
Jeden Mittwoch nach der Rückkehr aus der Schule war die erste Stunde im Hause St. Juste fest verplant. Klavier spielen stand auf dem Programm, Disziplin war gefragt. Disziplin und Willenskraft zeichnen den 05-Profi bis heute aus. Seine Begeisterung für die Musik versucht er nun auf die knapp vier Monate alte Tochter zu übertragen, die zuletzt im Homeoffice sogar als Sparringspartner diente. So sehr er die Zeit mit dem Nachwuchs genossen hat, so sehr sehnt er sich nach Fußball und den Teamkollegen.
Rückblick: Es läuft die 52. Spielminute in der Partie des FSV bei der TSG 1899 Hoffenheim im November 2019, die 05ER agieren seit der 45. Minute in Unterzahl, liegen mit 1:0 in Führung. Der Sommerneuzugang kommt ans Leder, zieht einen 30-Meter-Sprint bis kurz vor die Grundlinie an, flankt scharf nach innen, wo Pavel Kaderabek den Ball ins eigenen Tor befördert. Eine Szene als Dosenöffner für ein am Ende furioses 5:1 im Kraichgau und stellvertretend für die Willenskraft und den Drang St. Justes, der nach vorne wie nach hinten äußerst ausgeprägt ist.
Diese Szene sowie weitere Highlights seht ihr in unserem "Best of Jeremiah"
Einen Tag vor der Rückkehr an den Bruchweg am Dienstagnachmittag ist die Aufbruchsstimmung beim 23-jährigen Innenverteidiger auch über das Telefon greifbar. Sie zeugt dieser Tage vom Drang ausnahmsweise davon, überhaupt endlich zurückzukehren auf den Fußballplatz. Zwar habe er das Beste aus der Situation der letzten Wochen gemacht und sagt: "Jeder Nachteil bietet immer auch Chancen. Und für mich war es jetzt, so seltsam sich die Situation auch anfühlt, wertvoll bei meiner Tochter sein zu können – mir wurden sozusagen 24 Stunden pro Tag 'Quality time' mit ihr geschenkt. Es wurde nie langweilig, die Tage sind schnell vergangen mit Training, lernen, Serien schauen oder auch mal PlayStation spielen. Dadurch, dass ich meine Tochter in meine Fitnessübungen einbinden konnte (Anm. d. Red.: Ein Beispiel findet ihr hier), hat das Ganze noch mehr Spaß gemacht", berichtet er lachend. Dennoch fehle auch ihm das Gefühl, bei seiner Mannschaft zu sein, den Frühlingsbeginn mit Ball auf dem Rasen erleben zu können. "Wir, das gilt nicht nur für uns Fußballer, wollen letztendlich alle tun, was wir lieben und unseren Beruf ausüben. Es ist schön, dass wir uns jetzt wiedersehen, auch wenn es keine normalen Bedingungen sein werden, unter denen wir in den nächsten Tagen arbeiten. Es gibt keinen Tag X, auf den wir hinarbeiten. Und dennoch müssen wir fokussiert sein und klar im Kopf, denn es geht noch um sehr viel, sollte die Saison fortgesetzt werden."
Voraussetzungen müssen stimmen
Natürlich, unterstreicht auch St. Juste mit Bezug auf die angestrebte Fortsetzung der Spiele, stehe die Gesundheit im Leben an erster Stelle. "Wir wollen Fußball spielen, aber es gibt immer zwei Seiten zu betrachten und die Voraussetzungen müssen stimmen. Ich kann jede Meinung akzeptieren, die eine Wiederaufnahme des Spielbetriebs kritisch sieht." Während die konkrete Planung der kommenden Wochen somit noch schwer fällt, viele Unklarheiten herrschen in diesen „unsicheren Zeiten", ist der Innenverteidiger von einem überzeugt. "Ich gehe zu 1000 Prozent davon aus, dass wir das normale Leben, wie wir es kennen, künftig mehr schätzen werden. Man sieht gerade Bilder von Menschen, die sich um Toilettenpapier streiten. Wir sehen Bilder aus Ländern, wo viel mehr auf dem Spiel steht oder hören von Privatpersonen und Unternehmen, bei denen es um die Existenz geht. Insofern würde ich sagen: 'Lasst uns alles wertschätzen, das wir haben, im Großen wie auch im Kleinen.'"
Ein Stück weit ist somit auch der 05-Profi derzeit noch auf der Suche nach der richtigen Perspektive, womit er nicht allein sein dürfte. Im Zwiespalt zwischen dem Wunsch nach Normalität und dem Bewusstsein um höhere Güter, wie Gesundheit und Sicherheit, wie er betont. "Es sind verrückte Zeiten, durch die wir gerade gemeinsam gehen müssen." Auf privater Ebene hingegen hat St. Juste einen Perspektivwechsel zuletzt zwangsläufig vollzogen. Für seine Freundin und den Profi steht seit der Geburt der ersten Tochter nun Jaeda Lima im Mittelpunkt, der er eine seiner Leidenschaften besonders gerne mit auf den Weg geben möchte in den kommenden Jahren. Für sein Talent am Klavier habe sein Großvater gesorgt, der ihn selbst wie auch die drei Geschwister für die Musik begeistert habe. "Er hat mich sehr inspiriert. Klavier spielen löst bei mir bis heute mit das wunderbarste, inspirierendste Gefühl aus, das ich kenne und mir Energie verleiht. Ich musste jeden Mittwoch nach der Schule eine Stunde spielen. Ob ich müde war oder nicht, diese eine Stunde hatte stattzufinden und die Mühe hat sich ausgezahlt", erzählt der ehemalige niederländische U21-Nationalspieler, der seinen Großvater mit einem Tattoo am Oberarm verewigt hat, rückblickend. "Ich würde mir natürlich wünschen, dass meine Tochter irgendwann ähnlich empfindet. Ich werde sie nie dazu drängen, das Spielen zu lernen, aber liebe es für sie zu spielen und hoffe, es gefällt ihr."
Seite an Seite mit Innenverteidiger-Kollege Niakhaté auf dem Platz & Tochter Jaeda Lima im heimischen Wohnzimmer
Auf einen Teil der Zeit für Hobbies, zu denen seit kurzem auch das Lernen der arabischen Sprache ("Meine Freundin ist Marokkanerin und es ist eine wunderschöne Sprache.") zählt, würde St. Juste künftig dennoch nur allzu gerne verzichten, um wieder vermehrt seiner Leidenschaft rund um die Balljagd in der Bundesliga, in der ihm im 05-Trikot seit Sommer zwei Treffer gelangen, nachzugehen. Einfluss darauf hat er zunächst freilich keinen, was er akzeptiert. "Die Situation ist, wie sie ist. Und natürlich: Als Mensch möchtest du dich vorbereiten und planen können. Das ist derzeit nicht möglich. Wir können nur alle versuchen, uns gegenseitig zu unterstützen und die Vorgaben zu befolgen." So ungewiss die Entwicklung der kommenden Wochen noch sein mag; eines steht schon heute fest: Über die ersten Lebensmonate wird Familie St. Juste Jaeda Lima in wenigen Jahren viel zu berichten wissen. In einer Zukunft, so bleibt zu hoffen, in der wir Normalität, wie wir sie kannten, leben und erleben – und, um es mit St. Justes Worten zu sagen, auch die kleinen Dinge wertschätzen.