• Home
  • News
  • Matchplan wird zum Markenzeichen

Profis 17.04.2020 - 19:30 Uhr

Matchplan wird zum Markenzeichen

Thomas Tuchel formte als jüngster Bundesligatrainer ein 05-Team, das sehenswerten Tempofußball spielte

Thomas Tuchel im Januar 2010 während des Trainingslagers an der Costa Ballena.

Mainz bleibt weiterhin zu Hause. Zeit, um mal wieder an wichtige und emotionale Ereignisse aus der Klub-Vergangenheit zu erinnern. Zum Beispiel an die Saison 2009/10, als sich der 1. FSV Mainz 05 bei seiner Rückkehr in die Bundesliga fünf Tage vor dem Saisonstart von Aufstiegstrainer Jörn Andersen trennte, Jugendtrainer Thomas Tuchel installierte, der mit seinem Team auf Anhieb 47 Punkte holte und dabei sehenswerten, technisch hochwertigen Tempofußball am Bruchweg spielen ließ, der die Anhänger begeisterte.

Mainz 05 und insbesondere der damalige Manager Christian Heidel waren bekannt für unkonventionelle Entscheidungen und Maßnahmen. Nun musste Heidel jedoch in einer vielbeachteten Pressekonferenz einen fast schon ungeheuer anmutenden Schritt erklären, der landauf, landab heftig diskutiert wurde. Vier Tage vor dem Saisonauftakt gegen Bayer Leverkusen präsentierte der Verein seinen U19-Jugend-Trainer als künftigen Chef der Profi-Mannschaft, als Nachfolger des am Tag zuvor entlassenen Jörn Andersen, der die 05ER zurückgeführt hatte in die Bundesliga. Schon im Trainingslager waren vermehrt Zweifel am Arbeitsstil des Dänen entstanden. Nach dem Pokal-Aus beim VfB Lübeck schuf Heidel Tatsachen. Thomas Tuchel, der wenige Wochen zuvor die U19 vom Bruchweg im Endspiel gegen Borussia Dortmund zur Deutschen Meisterschaft geführt hatte, übernahm den Job.

Man habe im Verein feststellen müssen, erklärte der Manager, dass Andersen vom gemeinsam festgelegten Weg abgewichen sei. "Wir haben ein klares Anforderungsprofil, wie ein Trainer mit der Mannschaft und dem Verein arbeiten soll. Unsere Stärken sind Teamwork, die Nähe zur Mannschaft und interne Kommunikation", sagte Heidel der Mainzer Rhein-Zeitung. Dieser Ansatz habe mit dem von Andersen nicht mehr übereingestimmt. Tuchel, ein Schüler von Ralf Rangnick, passe zum Verein. "Das ist wieder ein Stückchen Mainz 05. Er hat das Know-how, er vertritt unsere Philosophie. Wir haben keinen Zweifel, dass er zu diesem Zeitpunkt der richtige Ansprechpartner für die Mannschaft ist."

Die besten 05 aus der Saison 2009/2010

var vp_youtubeid = "MvUr7vhILSA"; var vp_filename = "";

Tuchel selbst benutzte den Begriff "kleines gallisches Dorf" für die 05ER. "Ein kleiner Verein, mit nicht viel Geld, ein völlig unbekannter Trainer, Begeisterung und damit den Großen in der Liga das Leben schwermachen." Das sei die Aufgabe, so der in diesem Jahr mit 35 Jahren jüngste Bundesligacoach. Im ersten Saisondrittel, in dem die taktischen Abläufe und Ideen noch nicht verfestigt waren, organisierte Tuchel besonders in den Heimspielen emotionale Überfälle. Von Lauf- und Kampfbereitschaft, von Leidenschaft beseelte Vollgasveranstaltungen, in denen die 05-Profis bis an ihre körperliche Grenzen  gingen in ihrem Zweikampfverhalten. "Wir müssen unseren Ballbesitz kultivieren", erklärte der Jung-Trainer aber bereits nach dem Auftaktremis gegen Leverkusen zur allgemeinen Überraschung. Um diesen theoretischen Ansatz umzusetzen, mit dem in Mainz kein Trainer zuvor angetreten war, brauchte es Zeit. Nach ein paar Wochen war klar, was Tuchel wollte: "Der Trainer hatte den Mut, das Aufstiegsteam Kombinationsfußball zu lehren, geduldiges Flachpassspiel, getragen von viel Bewegung, von gutem Freilaufverhalten, Passhärte und Passgeschwindigkeit. Automatisierte Abläufe. Auf der Basis einer hervorragend organisierten Defensivmaschinerie, Raumverengung", hieß es in der Rhein-Zeitung.

24 Punkte holten die 05ER damit in der Vorrunde. Das Publikum war begeistert, der Bruchweg, sowieso immer ausverkauft,  war das stimmungsvolle Stadion, in das alle Gegner mit Respekt kamen. Höhepunkt war der erste Sieg überhaupt gegen den FC Bayern München und dessen neuen Trainer Louis van Gaal. Beim 2:1-Erfolg schossen die Mainzer zudem alle drei Tore. Neuzugang Andreas Ivanschitz das 1:0. Mittelstürmer Aristide Bancé das 2:0. Nikolce Noveski fälschte einen Ball von Thomas Müller ins eigene Tor ab zum 1:2. Die Bayern waren konsterniert. In Mainz stieg eine rauschende Fußball-Party. Die Münchner hatten sich im 05-Pressinggeflecht verfangen. Bo Svensson, der in Tuchels 4-1-4-1 als zusätzlicher Verteidiger vor der Viererkette Nationalstürmer Miroslav Klose eine Stunde lang jeden Ball vom Fuß holte, gehörte zu den herausragenden Akteuren. Ebenso Bancé, der alleine fünf Großchancen vergab, Ivanschitz, der sich in der Folge zu einem zuverlässigen Torschützen und Vorlagengeber entwickelte, André Schürrle, der erste Ansätze seines großen Könnens zeigte.

Bilder der Saison

Enorme taktische Flexibilität

In dieser Spielzeit etablierte Tuchel einen Begriff, der zum Mainzer Markenzeichen wurde und den später viele Trainer benutzten: den Matchplan. "Dass eine Aufsteigermannschaft Woche für Woche in einer veränderten Aufstellung und in einer neuen taktischen Grundordnung auflaufen und bestehen kann, auch diesen Beweis hat der studierte Betriebswirtschaftler angetreten", war in der Rhein-Zeitung zu lesen. Tuchel richtete (heute gängige Praxis) seine Wochenarbeit auf den nächsten Gegner aus, erarbeitete den Matchplan, und wenn der im Spiel mal nicht funktionierte, krempelte er schon nach wenigen Minuten alles um und kam oft mit weiteren Variationen aus der Halbzeitpause.

Einflussnahme von der Seitenlinie: Tuchel las das Spiel und griff regelmäßig mit taktischen Maßnahmen ein.

Der FSV spielten im 4-4-2, flach oder mit Raute, im 4-2-3-1, im 4-3-2-1, im 4-1-4-1, im 4-4-1-1, im 3-5-2 und allen möglichen Zwischenformen. "Das macht in dieser Flexibilität, in dieser mutigen Konsequenz kein anderer Bundesligatrainer", schwärmte die Rhein-Zeitung. "Und es hat nicht den Eindruck, als sei dieser dynamische Entwicklungsprozess mit Rang neun schon abgeschlossen. Eher im Gegenteil." Tuchel formte aus seinem Kader ein Team, das in der Folge fußballerisch und taktisch einen Prozess durchlebte, den die Mannschaft dann eine Saison später (ein ausführlicher Rückblick auf mainz05.de folgt in der kommenden Woche) mit 58 Punkten veredelte und in den Europapokal führte.

Presseberichte

In seinem Premierenjahr war der heutige Trainer von Paris St. Germain mit dem Aufsteiger nie schlechter als Platz elf, hatte am Ende zwölf Siege, elf Unentschieden sowie elf Niederlagen auf dem Konto. Bancé  (10 Treffer), Ivanschitz und Tim Hoogland (jeweils 6) sowie Schürrle (5) waren die Top-Torjäger. Das Quartett sammelte am Ende auch die meisten Scorerpunkte. Elkin Soto, Miroslav Karhan, später auch Eugen Polanski waren die festen Größen im Mittelfeld. Noveski, Svensson, Niko Bungert sowie in der Rückrunde die Zugänge Malik Fathi und Radoslav Zabavnik die Abwehrstützen vor Torhüter Heinz Müller.