Profis 29.03.2020 - 19:30 Uhr
"Wundersaison" mit Happy End
Erinnerungen an ein grandioses 05-Spiel in Duisburg und den größten Abstiegskampf aller Zeiten
Der Spiel- und Trainingsbetrieb ruht. Die Profis absolvieren ihre individueleln Programme zu Hause in den eigenen vier Wänden. Die andauernde Corona-Krise hat auch beim 1. FSV Mainz 05 den Alltag auf den Kopf gestellt. Mainz bleibt zu Hause. Zeit genug also, mal wieder an wichtige und emotionale Ereignisse aus der Vergangenheit des Klubs zu erinnern. Beispielsweise an jene "Wundersaison" 1995/96, in der die 05ER mit einer furiosen und nie dagewesenen Rückrunde den sicher scheinenden Abstieg verhinderten.
Wegen der dreimonatigen Pause, bedingt durch einen arktischen Winter, dauerte das große Zittern bis ann 1996 bis in den Juni hinein. Über 1000 Anhänger reisten seinerzeit am ersten Sonntag des Monats mit dem durch den Verein subventionierten Sonderzug ins Ruhrgebiet, etwa 2000 Mainzer Fans pilgerten insgesamt ins Duisburger Wedaustadion. So viel etwa, wie sonst zu den Heimspielen des FSV kamen.
Der gnadenlos brutale Nervenkrieg der vergangen Wochen erlebte dort eine erneute Steigerung. Die 05ER, Viertletzter mit 38 Punkten, mussten diesen Tabellenplatz in den letzten beiden Saisonspielen loswerden, sonst drohte die Regionalliga. Bis auf sechs Klubs waren alle Vereine in diesen Abstiegskampf involviert. Die Mainzer standen vor der schwersten Aufgabe, mussten ihre Punkte auswärts beim MSV Duisburg sammeln, der als Dritter selbst noch Punkte für den Aufstieg benötigte, und dann später im Finale zu Hause gegen den als Meister feststehenden VfL Bochum. "Man kann das Ganze auf einen einfachen Nenner bringen", sagte Wolfgang Frank, "wir dürfen keine Angst haben". Die 05-Trainer-Legende hatte bis dahin mit stoischer Ruhe eine der wichtigsten Regeln im Abstiegskampf befolgt und trotz heftigen medialen Drängens nie von Endspielen gesprochen. "Jetzt haben wir ein Endspiel", erklärte Frank der Mainzer Rhein-Zeitung vor der Reise nach Duisburg. "Wenn wir das gewinnen, schlagen wir auch die Bochumer."
Aufgeladene Atmosphäre vor Endspiel Nummer eins
Frank schaffte es, wie in den Spielen zuvor, seine Mannschaft auch beim MSV auf den Punkt borzubereiten. Die Viererkette, seit der Winterpause das Prunkstück, sorgte dafür, dass die Duisburger es, ebenso wie etliche andere zuvor, kaum schafften, in den 05-Strafraum einzudringen. Uwe Stöver, Peter Neustädter, Michael Müller und Jürgen Klopp agierten auf Top-Niveau. "Uwe hat sich gesteigert, Klopp sowieso", sagte der Coach, "aber was Neustädter und Müller im Zentrum gemacht haben, das war Klasse". Man kann auch von überragend sprechen, vor allem bei Müller, der die Konter einleitete. Das Prädikat galt auch für Bruno Akrapovic und Lars Schmidt, die Abfangjäger und Aufbauarbeiter im Mittelfeld. Dann gab es da noch Thomas Ziemer, der sein bestes Spiel im 05-Trikot machte. Der Franke spielte extrem mannschaftsdienlich, bereitete vor und zeigte sich als genialer Torschütze, der "mit Frechheit und Überblick zwei Weltklasse-Tore erzielte", wie die Rhein-Zeitung damals schrieb. Sven Demandt, nach langer Verletzungspause in der Rückrunde zum wichtigen Torjäger geworden, gab die Richtung vor mit seinem Treffer zum 1:0 in der Anfangsphase. "Ich ziehe den Hut vor Sven und Thomas", sagte Klopp später. "Was die da machen, riesig. Der Sven spielt gegen den vermeintlich besten Manndecker der Liga und macht Thorsten Wohlert direkt mal richtig nass."
Mit einer grandiosen Vorstellung (Klopp: "Es hieß immer im Abstiegskampf könne man keinen schönen Fußball spielen. Ich glaube, wir haben das Gegenteil beweisen.") verließ Mainz 05 erstmals die Abstiegsränge und hatte die Rettung nun selbst in der Hand. Doch ohne Klopp. Der hatte sich in Duisburg das vordere Kreuzband im linken Knie angerissen und musste operiert werden.
Elektrisierte Mainzer
Acht Spiele ohne Tor
Der Rest ist bekannt. "Um 17.16 Uhr löste sich die Lawine im Bruchwegstadion“, schrieb die Rhein-Zeitung eine Woche später nach dem finalen 1:0 am Bruchweg. "Die Fans stürmten den Rasen. Die Anspannung, die Angst, die Unsicherheit der zurückliegenden Wochen entluden sich in einer Jubelorgie nie dagewesenen Ausmaßes: 12.000 Zuschauer feierten den Triumph einer Mannschaft, die es schaffte, Träume wahr werden zu lassen... Der 1:0 Sieg gegen den VfL Bochum bringt die 05ER sogar auf den elften Tabellenplatz." Marco Weißhaupt war es, der mit seinem Tor in der 7. Spielmiinute in die 05-Geschichte einging. Der Stürmer sprintete nach einer Balleroberung aufs Tor zu, scheiterte zunächst am Torhüter, erwischte aber den Abpraller und vollstreckte zum Treffer des Tages am Bruchweg.
Weißhaupt krönt Finale am Bruchweg - Statistiken einer atemberaubenden Saison
Ein Fußball-Märchen war wahr geworden. Und das in einer Saison, in der lange alles schief gelaufen war. Schon der Auftakt: Dem Jubel nach dem spektakulären Ausgleichstreffer von Stephan Kuhnert in der Nachspielzeit gegen Hannover 96 folgte schnell die Ernüchterung. Der DFB annullierte das 2:2 und wertete die Partie mit 0:2 gegen den FSV, weil Ziemer nicht auf der Spielberechtigungsliste gestanden hatte. Nach acht Spielen stand die Mannschaft ohne ein geschossenes Tor auf dem letzten Platz. Horst Franz, der Retter der Vorsaison, musste gehen, Manfred Lorenz holte als Interimscoach am 9. Spieltag den ersten Sieg. Dann übernahm Wolfgang Frank. Doch zum Ende der Vorrunde waren die 05ER mit 12 Punkten immer noch Letzter.
Frank führte im Winter die Viererkette und das raumorientierte Verteidigen ein, bis heute die Basis des Mainzer Spiels und wurde als Trainer des Jahres geehrt. In mühevoller Kleinarbeit gelang es Team und Trainer inoffizieller Rückrundenmeister zu werden. Die sensationelle Erfolgsserie am Ende mit fünf Siegen und ohne Niederlage in den letzten acht Auftritten, war im Prinzip ein erster Schritt auf dem Weg zu einer erfolgreichen 05-Ära.